Die Friedensgeste des früheren Bundeskanzlers Brandt hat an Aktualität nichts verloren.

Der SPD-Mann Willy Brandt war kein „politischer Heiliger“. Es gibt genug Gründe, ihn für politische Äußerungen und Entscheidungen – sei es als Bürgermeister der Frontstadt Westberlin, sei es als Bundeskanzler – zu kritisieren. Aber er hat als Kanzler einige bemerkenswert positive Wegmarken gesetzt wie niemand sonst in diesem Amt.
Am 7. Dezember vor genau 50 Jahren kniete Willy Brandt bei seinem Besuch in der VR Polen vor dem Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos aus der Zeit der faschistischen Unterwerfung des Landes für einen Moment nieder. Diese Geste hat sich bei vielen Menschen und in vielen Ländern als ein besonderes Zeichen politischer Verantwortung eingeprägt. In der damaligen Zeit der noch offenen Wunden der Barbarei des deutschen Hitlerfaschismus in fast ganz Europa und in der verhärteten Zeit der Systemgegensätze war Brandts „Kniefall“ ein starkes Signal.
Willy Brandt hatte als Widerstandskämpfer und norwegischer Exilant in der Zeit des faschistischen Terrors „auf der richtigen Seite“ gestanden. Einer persönlichen Vergebungsgeste bedurfte es daher 1970 in Warschau nicht. – Nein, er tat es als Repräsentant der gesamten Bundesrepublik, wohlwissend, dass er damit den Unbelehrbaren der Nazi-Zeit und dem noch immer starken reaktionären Spektrum der Nationalisten und der „kalten Krieger“ gezielt ein deutliches Friedens- und Versöhnungssignal entgegensetzte.
Ein solches Signal war mehr als nur symbolischer Natur. Es hatte wie ein ins Wasser geworfener Stein viele positive Wirkungen und ein humanistisches Umdenken zur Folge. Es hat Schuld und Verantwortung deutlich gemacht und nach innen wie nach außen eine wahre (!) „geistig-moralische Wende“ (von der Brandts Nachnachfolger Kohl nur behäbig schwätzen konnte) befördert.
Seit einigen Jahrzehnten sind ehrliche (!) Vergebungs- und Versöhnungsgesten in der Politik so gut wie nicht mehr zu finden. Dabei gäbe es genug Anlässe dafür, Signale für eine politisch-moralische Umkehr zu setzen. Die „moderne“ Politik in der BRD, der EU und anderswo hat (oft außerhalb des Kontinents) teils tiefe Wunden gerissen, um Macht, Einfluss und materielle Vorteile im eigenen Land zu sichern. Aus den militaristischen und imperialistischen Verwilderungen wurde dauerhaft wenig gelernt – im Gegenteil, sie werden heute mit veränderten Mitteln fortgeführt.
Die Durchführung und Unterstützung aggressiver und völkerrechtswidriger Kriege (ob in Jugoslawien, im Nahen oder Mittleren Osten oder anderswo) hat hunderttausende Menschen das Leben gekostet und dauerhafte politische Krisen befeuert. Die Ausplünderung der südlichen Welt durch die politische Duldung und Förderung aggressiv-imperialer Konzern- und Finanzpolitik hat sich bis heute noch verschärft. Gefährlicher Klimawandel, Massensterben, Not, Elend und Flucht sind damals wie heute die furchtbaren Folgen – aber sie geschehen eben (gefühlt!) „weit weg“…
Die Verantwortung dafür tragen sämtliche Regierungen und Wirtschaftseliten der etablierten „westlichen Wertegemeinschaft“ (und auch ein paar mehr), denen die Lippenbekenntnisse zu Freiheit, Demokratie und Menschlichkeit nicht ausgehen wollen – die sie aber wissentlich mit Füßen treten. Große Teile der Bevölkerung (teils selbst unter sozialem Druck) stehen diesem Treiben ohnmächtig gegenüber oder sie üben sich im alltäglichen Verdrängen. Und so ändert sich nichts.
Deshalb braucht es in unserer Zeit, symbolisch ausgedrückt, mehrere oder sogar sehr viele „Kniefälle“, um die eigene Verantwortung für die Krisen und die Brutalität der Welt deutlich zu benennen – und klare Konsequenzen einer politischen Neuorientierung im Sinne echter (!) Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit für ALLE einzuleiten. Die Folgen und die kollektive Verantwortung für das Geschehene müssen wir alle in den reichen Ländern tragen.
Willy Brandt, Nelson Mandela, Martin Luther King, Mahatma Gandhi (ich bleibe hier bewusst mal in der politischen „Mitte“) und viele andere haben es zumindest versucht, die Welt für alle ethisch-moralisch besser zu machen. Es liegt daher an uns allen, daran anzuknüpfen, endlich politische Mehrheiten dafür einzufordern und dafür einzustehen. Chancen dafür gibt es, eine Erfolgsgarantie hingegen leider nicht…
„Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein, nach innen und nach außen“, hatte Kanzler Brandt damals als Leitlinie formuliert. An dieser „Vision“ hat sich in einer seitdem noch stärker globalisierten Welt nichts geändert, denn ihre Realisierung steht noch immer aus. Eine (im weitesten Sinne!) soziale und friedensorientierte Politik – ob im eigenen Land oder gegenüber Russland, Afrika und anderen – ist deshalb ein Gebot der Vernunft!