Wie ein wirksames Flensburger Sozialticket durch das Zögern der anderen Fraktionen zu scheitern drohte und wie es der Einsatz der Linksfraktion doch noch zum Erfolg machte. – Eine (er-)klärende Darstellung von Herman U. Soldan-Parima.

In der Flensburger Ratsversammlung am 26.01.2023 würde es plötzlich „munter“ – und das bei einem Tagesordnungspunkt, der vor der Behandlung eigentlich als unstrittig erschien: Als die Sozialdezernentin Karen Welz-Nettlau die Vorlage für ein „Sonderbudget zur Abmilderung sozialer Härten“ in der aktuellen Krise (auch Sozialstrategie genannt), das zu neun thematischen Schwerpunkten einen Umfang von mehr als einer Million Euro vorsieht, lobte sie die konstruktive und einmütige Vorbereitung im Sozialausschuss und im neuen „Sozialen Trialog“, in dem die Sozialverwaltung mit den politischen Ratsfraktionen und den Wohlfahrtsverbänden verhandelt hatte.
Flensburger CDU will erfolgreiches Sozialticket ausbremsen
Doch da hatten weder die Dezernentin noch weite Teile der Ratsversammlung die Rechnung ohne die CDU-Fraktion gemacht… Ihr erster Redner Joachim Schmidt-Skipiol widersprach wortgewaltig der Einmütigkeit und kritisierte besonders die Finanzierung des erfolgreichen Sozialtickets durch das Sonderbudget in Höhe von fast einer halben Million Euro. Er kündigte wegen der hohen Kosten ein Nein aus der CDU an und forderte die Sozialverwaltung auf, die Beschlussvorlage zurückzuziehen. Dies lehnte die Dezernentin Karen Welz-Nettlau jedoch entschieden ab, weil angesichts der Probleme vieler Menschen Entscheidungen nun schnell getroffen werden müssten.
Auch eine Einzelabstimmung der neun Themenfelder der Vorlage, wie sie von CDU-Fraktionschef Arne Rüstemeier danach vorgeschlagen wurde, wurde von der Versammlung mit großer Mehrheit abgelehnt. CDU-Ratsfrau Gabriele Stappert hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ebenfalls mit Ablehnung gedroht und das Sozialticket kritisiert: Es sei wie immer, klagte sie, für so etwas würde viel zu viel Geld ausgegeben werden, während Familien aus der Mittelschicht nicht berücksichtigt würden…
Mit Ablehnung des Sozialtickets steht die CDU heute (fast) allein
Um es schon mal vorwegzunehmen: Die CDU drang mit ihrer plötzlichen Hoppla-Blockade nicht durch und musste zur Kenntnis nehmen, ihren vorherigen Job in den Ausschüssen und im „Sozialen Trialog“ nicht ordentlich gemacht zu haben, denn dort hatten die Vertreter*innen überwiegend geschwiegen und der Erarbeitung der Sozialstrategie nicht grundsätzlich widersprochen.
Im Grunde ist sich die CDU für ihre aufgeregte Ablehnung des Sozialtickets und letztendlich auch der Sozialstrategie lediglich selbst treu geblieben: Mit den Bedürfnissen der vielen Menschen in Flensburg, die so wenig Geld haben, dass sie sich Busfahren zu Normalpreisen nicht leisten könnten, haben es „die Schwarzen“ nun mal nicht sonderlich, und sie werden von diesen Menschen auch nicht gewählt. Also ist ihre Attacke parteipolitisch nur konsequent und belebt den parteipolitischen Dissens. Dass sie sich dabei selbst marginalisiert und im Grunde ohne Verbündete dasteht, muss sie nun allerdings selber ausbaden und die selbst verursachten Wunden lecken…
Grünen-Ratsherr verteidigt Sozialticket, hat aber wenig inhaltlichen Anteil daran
Mindestens ebenso interessant war in dieser Debatte jedoch die Haltung von Grünen und SPD. Insbesondere der Grünen-Ratsherr Pelle Hansen schwang sich zum eifrigsten Verteidiger des Sozialtickets auf, als er betonte, es sei auf Initiative seiner Fraktion erst in den Rat gebracht worden. – Hier setzt Hansen allerdings auf das kollektive Vergessen, denn die Vorlage, die im März 2019 auch von SPD und Linksfraktion eingebracht wurde (HA-12/2019), war nicht viel mehr als ein etwas schwächlicher Prüfauftrag an die Verwaltung – ohne Details und ohne Grad der Ermäßigung. Eine eindeutige Forderung zur Einführung eines Sozialtickets wurde in der Vorlage nicht formuliert.
Und so verblieb die Sozialticket-Idee zunächst monatelang in der Flensburger Stadtverwaltung, bis eine Mitarbeiterin im Oktober 2019 eine Stellungnahme zum Sozialticket herausgab (HA-9/2020, behandelt im Sozialausschuss am 10.02. und im Hauptausschuss am 11.02.2020), die auf Finanzierungsprobleme hinwies, gleichzeitig aber erwähnte, dass ein Sozialticket mit weniger als 50 Prozent Ermäßigung in der Bevölkerung nicht auf großes Interesse stoßen würde… Die Linksfraktion argumentierte für den Inhalt der Stellungnahme der Verwaltung, während die anderen Fraktionen (auch Die Grünen) auswichen und sich daran machten, das Sozialticket in einen anstehenden Strategieprozess der städtischen Busgesellschaft Aktiv-Bus zu verlagern.
2020: Die Linksfraktion fordert als einzige ein Sozialticket „zum halben Preis“
Die Linksfraktion legte nach den deutlichen Inhalten der Stellungnahme der Verwaltung am 11.06.2020 dennoch einen ersten eigenen Antrag für die Einführung eines Sozialtickets vor (RV-77/2020). Er wurde im Juni 2020 im Finanz- sowie im Sozialausschuss beraten und erhielt eine Reihe anerkennender Bewertungen, zum Beispiel von den Vertreter*innen von Grünen und SSW. Dafür stimmen wollten diese und andere Fraktionen allerdings nicht; sie verwiesen auf den Strategieprozess der Aktiv-Bus und kündigten sogar die Ablehnung des Linke-Antrags an. Der Linksfraktion blieb daraufhin nicht viel mehr übrig, als ihren Antrag zurückzuziehen, um ihn nicht „verbrennen“ zu lassen.
Im Spätsommer 2020 brachten sich seitens der Linksfraktion Frank Hamann und ich sehr aktiv in mehrere Strategietreffen der Aktiv-Bus ein, in dem wir erneut ein Sozialticket mit mindestens 50-prozentiger Ermäßigung thematisierten. Deren Geschäftsführer Paul Hemkentokrax wiederholte dort und in der Presse mehrfach: „Was die Politik beschließt, machen wir – und dafür brauchen wir dann Geld“… Damit war klar, dass unsere Vorstellung von einem sinnvollen und attraktiven Sozialticket politisch hart erkämpft werden musste.
Unzureichender Grünen-Vorschlag hätte das Sozialticket wirkungslos gemacht
In eher vorauseilendem Gehorsam gegenüber der zögerlichen Haltung von Stadtverwaltung, Stadtwerken und Aktiv-Bus mischte Grünen-Ratsherr Hansen bei diesen Strategietreffen mehrfach ganz vorne mit (einmal sogar nach offiziellem Ende einer Sitzung) und formulierte ein eher wirkungsloses „Sozialticket light“ – mal mit nur 40, dann sogar mit nur 33 Prozent Preisermäßigung gegenüber der regulären Monatskarte. Letzteres wurde dann von der Stadtverwaltung aufgegriffen und in einer Beschlussvorlage (SUPA-39/2021) am 03.06.2021 in den Planungsausschuss eingebracht – trotz der vorherigen Erkenntnis, dass die Rabattierung für eine erfolgreiche Umsetzung bei mindestens 50 Prozent liegen müsse.
An diesem Punkt ergriff die Linksfraktion „in letzter Sekunde“ die Initiative, verwies auf das frühere Positionspapier der Verwaltung, stellte am 08.06.2021 einen Änderungsantrag (SUPA-39/2021, 1. Ergänzung) und kämpfte damit vehement für ein um mindestens 50 Prozent ermäßigtes Sozialticket zum Maximalpreis von 25 Euro pro Monat. Die Grünen-Fraktion griff dies nicht auf, sondern versuchte stattdessen, am 15.06.2021 eine weitere Ergänzung, allerdings für ein verbilligtes Schüler-Ticket, durchzubringen. Diese Ablenkung misslang jedoch, und die Grünen zogen ihren Antrag etwas später wieder zurück.
Die Linksfraktion setzt sich mit ihrem Antrag durch: Das Sozialticket wird zum Erfolg!
Die Debatte über das Sozialticket hingegen war „lebhaft“ , aber die Linksfraktion hatte die besseren Argumente – und so erhielt ihr Antrag bei der Beschlussfassung die Unterstützung der Verwaltung und nachfolgend im Planungsausschuss am 16.08.2021 eine große Mehrheit bei den Ratsfraktionen (bei Ablehnung durch die CDU und Enthaltung der FDP), die dann im Januar 2022 zur praktischen Einführung des jetzigen Flensburger Sozialtickets führte. – Der Erfolg des Tickets ließ nicht lange auf sich warten: Mit rund 3.000 verkauften Stück pro Monat findet es bereits mehr Nachfrage als die reguläre Abo-Monatskarte mit rund 2.000 Verkäufen.
In der jüngsten Ratsversammlung wurde das Sozialticket als Teil des Krisen-Sonderbudgets gegen die Angriffe der CDU also erst einmal „gerettet“. Die jahrelange Skepsis der SPD fand allerdings eine kleine Neuauflage durch eine Äußerung ihres Ratsherrn Axel Kohrt: Auch er lehnte zwar den CDU-Vorstoß ab und verteidigte die Kosten für das Ticket in der Sozialstrategie, merkte aber an, dass man „nach zwei Jahren dann nochmal schauen müsse“… Damit ließ er eine Hintertür offen, um das Sozialticket „nach Kassenlage“ wieder zurückzunehmen oder finanziell zu beschneiden.
Finger weg von späteren Einschränkungen beim Sozialticket!
Aus Sicht der Linksfraktion darf ein (späterer) Rückzug aus dem Sozialticket nicht geschehen. Zum einen hat der bislang eher wenig attraktive Flensburger Nahverkehr mit dem Sozialticket eine wichtige soziale Komponente erhalten, die die Passagierzahlen erhöht und tausenden Menschen zu einer ihnen zustehenden Mobilität verhilft. Zum anderen wird ein sozial angelegter Nahverkehr zum Sprungbrett für eine notwendige Klima- und Verkehrswende, die nur mit einem auch preislich attraktiven ÖPNV-Angebot für alle gelingen kann.
Im jahrelangen Entstehungsprozess des Sozialtickets haben sich die meisten anderen Fraktionen wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert: Die CDU wollte und will es aus ideologischen Gründen sowieso nicht – sei‘s drum! Aber auch die SPD (und übrigens auch der SSW) zögerte und lavierte, ohne eine eigene Alternative zu erarbeiten – und die Grünen mit Ratsherr Pelle Hansen an der Spitze versuchten, mit einem unzureichenden Vorschlag eine PR-Kampagne für sich daraus zu stricken.
Dass das Sozialticket aktuell von SPD, SSW und Grünen nicht angetastet, sondern sogar verteidigt wird, ist gut und notwendig. – Aber auch für die Zukunft muss gelten: Finger weg von Einschränkungen beim Sozialticket! Es ist für einen modernen Nahverkehr und den sozialen Zusammenhalt der Flensburger Stadtgesellschaft unentbehrlich!