Hier gibt es meine Beiträge zum Thema Sozialpolitik in chronologischer Reihenfolge.
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Sozial umsteuern und das demokratische Fundament wiederherstellen!
Vor den vielen globalen Krisen wird die soziale Krise im eigenen Land immer mehr vernachlässigt
23.11.2020

Die Welt scheint aus den Fugen – und nahezu alles Krisenhafte trägt den weltweiten Stempel: Die Klimakrise zum Beispiel (auch wenn sie überwiegend vom globalen Norden und seinen reichsten Eliten zu verantworten ist) – oder die Corona-Pandemie, die die ganze Welt erfasst hat, gesundheitlich und wirtschaftlich, je nach Region und verschiedener Krisenpolitik unterschiedlich – oder die weltweite Jagd nach Rohstoffen (im Kern ebenfalls zu verantworten durch die Konzernmacht des globalen Nordens), der nicht selten in Kriegen und Bürgerkriegen gipfelt, die dann auch wieder „von uns“ mit reichlich Waffen befeuert werden.
Doch eine Krise ist „hausgemacht“ (auch wenn sie dem anglo-amerikanischen Neoliberalismus entstammt) – und muss daher in der Bundesrepublik selbst angegangen und beseitigt werden: Es ist die jahrzehntelange und immer weiter zunehmende materielle Armut, die im Durchschnitt jede*n Sechste*n trifft (in einigen Regionen und Stadtteilen sogar 25 Prozent!). Diese Situation ist durch Regierungshandeln herbeigeführt worden. Niedriglohnsektor, Hartz-IV-Zwangsregime, „Minijobs“ und Rentenkürzungen sind hier die zentralen Stichwörter, die Familien, Alleinerziehenden und Senior*innen millionenfach die notwendige Lebensgrundlage und auch die Perspektive raubt.
„Am anderen Ende“, also bei den etwa 10 Prozent Reichsten, wird seither „Party gefeiert“, dort steigen die Profite und Vermögen und dort sinken die Steuern – und rund 100 Milliarden Euro werden jährlich außer Landes geschleust, um die niedrigen Steuern auch noch umgehen zu können. – Das Ganze ist eine gezielte und gewollte (oder zumindest hingenommene) Umverteilung „von unten nach oben“, von den Ärmsten, die immer ärmer werden, zu den wenigen Mega-Reichen, die immer reicher werden. Wo Löhne zu niedrig sind, stockt der Staat aus ohnehin knappen Steuermitteln mit mehr als 10 Milliarden Euro pro Jahr auf – und subventioniert so Unternehmen und Konzerne, von denen einige mit prächtigen Bilanzen für ihre Aktionär*innen prahlen dürfen…
Die Folgen für die rund 15 Millionen Ärmsten liegen auf der Hand: Für ein ordentliches und auskömmliches Leben reicht es bei steigenden Preisen und Mieten für sie nicht mehr. Kinder bleiben auf der Strecke und haben nur wenige Perspektiven, der materiellen Armut selbst später entfliehen zu können. Ältere Menschen werden um den Lohn jahrzehntelanger, oft schwerer Arbeit gebracht. Ganze Stadt(rand)-Viertel werden zu Orten mangelnder Perspektive und oft auch der Frustration und ihren Folgen.
Doch „wir“ dürfen uns nicht länger auf die Symptombeschreibung und auf ernste Mienen beschränken, denn die materielle Armut bedroht nicht nur einzelne Menschen oder einige gesellschaftliche Gruppen. Sie bedroht vielmehr die gesamte Gesellschaft, in der Solidarität und Zusammenhalt mehr und mehr verloren gehen. – Millionenfache materielle Armut hat keine Lobby: Die Montagsdemos gegen die Agenda 2010 sind abgeebbt, Hartz-IV-(Selbst-)Hilfeinitiativen gibt es nicht mehr. Die Sozialverbände stoßen weitgehend auf taube Ohren, denn „die Politik“, auch im halb-linken oder linken Bereich, thematisieren die Überwindung der materiellen Armut nicht mehr ausreichend als zentrales Problem der bundesdeutschen Gesellschaft.
In der derzeitigen Corona-Wirtschaftskrise leiden die Ärmsten doppelt so stark unter den Folgen wie die Besserverdienenden – und auch hier bietet die Mehrheit der Politik keine Lösungen an, weder bei „Minijobs“, von denen fast eine Million weggefallen sind und die wegen fehlender Sozialversicherungspflicht nur in die Hartz-IV-Spirale führen, noch beim nicht hinreichenden Hartz-IV-Satz, noch beim Mietenstopp, noch bei der Absicherung von Kindern und Jugendlichen.
Viele Betroffene haben sich von den „etablierten“ Parteien zurückgezogen und nehmen am parlamentarischen Willensbildungsprozess nicht mehr teil. Eine nicht geringe Zahl ist von der Linkspartei und der SPD ins Nicht-Wähler*innenlager oder sogar zur AfD abgedriftet. Manche sind nun auf Anti-Coronademos zu finden, denn den Regierenden vertrauen viele nicht mehr. Mit diesen „Ausweichbewegungen“ wird materielle Armut zum hochproblematischen Demokratie-Dilemma. Die mit der politischen Mehrheit „abgehängten“ und sich perspektivlos fühlenden Menschen stehen nun mit erklärten Demokratiefeinden in der „falschen Ecke“ – und kriegen das auch täglich so zu hören! Die Konsequenzen daraus sind noch nicht absehbar, aber sie geben Anlass zu einem pessimistischen Verlauf.
Die soziale Krise ist seit mindestens zwei Jahrzehnten zugespitzt aktuell. Daher darf Regierungspolitik nicht nur Klima-, Integrations- und Corona-Gipfel oder ähnliche „Runde Tische“ veranstalten, sondern ganz dringend einen permanenten „Sozial-Kongress“, an dem Betroffene und Sozialverbände beteiligt sind und der „von außen“ bereits vorhandene Lösungswege (die bisher von der Mehrheitspolitik und den Wirtschaftseliten verhindert werden!) in die Regierungspolitik einbringt. Die Neubelebung der früheren Montagsdemos dürfte hier eine deutliche Unterstützung für eine notwendige Rückverteilung von privaten Vermögen in die Sozialpolitik und notwendige Investitionen sein.
In meiner Stadt Flensburg wirbt die offizielle Politik parteiübergreifend mit dem „bunten“ Charakter der Stadt. Ausgangspunkt dafür war 2015 die stark steigende Fluchtproblematik – und es hat Erfolge zuerst bei der Integration, aber später auch in Gleichstellungsfragen gegeben. Doch in sozialer Hinsicht ist die Stadt weitaus weniger „bunt“, denn die materielle Armut ist mit knapp 20 Prozent erschreckend hoch und prägt die Lage der Stadt seit vielen Jahren. In der Kommunalpolitik werden Vorschläge zu sozialer Wohnungspolitik oder zu sozialen Rabatten von der Ratsmehrheit allerdings bestenfalls mit spitzen Fingern angefasst. Der Verweis auf mangelnde Zuständigkeit und leere Kassen geht da schon leichter von den Lippen…
Aber auch in Flensburg ist die Priorisierung sozialer Ziele und eventuell auch die Implementierung eines „Runden Sozial-Tisches“ wichtig. Wie andere Kommunen leidet die Stadt unter dem hohen Druck von Sozialleistungen, die ihr von einer verfehlten Bundespolitik auferlegt werden. – Dagegen muss die Stadt lernen, sich zu wehren! Die Kommunalpolitik sollte Einigkeit darüber erzielen, dass eine Forderung nach dem Motto „Wer bestellt, zahlt!“ an den Bund zu richten ist – und dass daraus frei werdende Mittel nicht nur verstärkt für soziale Projekte, sondern für ein notwendiges soziales Umsteuern der gesamten Politik, z.B. beim Wohnungsbau, dem Nahverkehr, einem kostenlosen Schulessen etc. eingesetzt werden müssen.
Sozialverbände, Initiativen und sich zuständig fühlende politische Parteien sollten einen neuen „Sozial-Fokus“ dann auch in die Bevölkerung tragen und dort für aktive Unterstützung werben und gleichzeitig gut verständlich signalisieren, dass es eine koordinierte Bewegung gibt, die sich für die Rechte und ein besseres Leben der rund 15 Millionen (oder in Flensburg: der rund 20.000) Menschen einsetzt. Diese Signale waren in der jüngsten Vergangenheit zu schwach oder wurden fast gar nicht mehr gesendet – mit schwierigen Folgen für die gesamte Gesellschaft.
Die soziale Krise ist in der BRD auf nationaler, wie auch auf kommunaler Ebene „hausgemacht“. Deshalb sollte auf diesen Ebenen endlich eine Neuorientierung mit dem Ziel der Überwindung von Armut eingeleitet werden – zum Wohle der vielen betroffenen Menschen und für die Stärkung demokratischer Strukturen, in der sich alle Einwohner*innen wiederfinden können. Um eine radikale Rückverteilung der vielen privatisierten Milliarden kommt dabei allerdings niemand herum. Leere Versprechen und durchschaubare Tricksereien gab es in der Vergangenheit genug!
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Die selbst verschuldete „Sozialfalle“ der Kommunen
Oder: Wenn die Kommunalpolitik mehrheitlich immer weiter die Augen vor der vom Bund verordneten Armut vieler Menschen verschließt, wird sie mitverantwortlich für das Zerbrechen der Gesellschaft.
20.08.2020

Nehmen wir mal an: Niemand in den Städte- und Gemeindeparlamenten hätte den Sozialabbau und die unwürdige Niedriglohnarbeit gewollt – und niemand wäre mit den kümmerlichen Transferleistungen für Tausende von Menschen, die der Bund den Kommunen auferlegt hat, einverstanden gewesen… Dann stünden sie trotzdem mit den zu hohen Ausgaben und schwindenden Steuereinnahmen da – und müssten sich eigentlich zu Tausenden mit Bannern und Trillerpfeifen nach Berlin aufmachen. Das wäre eine machtvolle Manifestation der vielen verschuldeten Kommunen und könnte eine soziale Politikwende einläuten…!!!
Aber das ist natürlich eine Illusion… Denn die kommunalen Parteien von CDU, SPD, Grünen und FDP haben ihre Bundespolitiker jahrzehntelang widerspruchslos gewähren – und sich die Agenda 2010 nahezu ohne Widerstand aufbrummen und die Finanzen ihrer Städte und Gemeinden ruinieren lassen. Seit Jahren stehen sie vor dem Scherbenhaufen ihrer Politik – und sie haben die „schwarze Null“ und von Bund und Land gesetzlich verankerte „Konsolidierungs-Sparrunden“ mit großen Worten und unter Bestreiten jeglicher Verantwortung für das Desaster angebetet. Es hat ihnen nicht genutzt, und es wird ihnen nichts nutzen – und ihrer Kommune erst recht nicht…
Viel schlimmer aber ist, dass sie damit selbst mehrheitlich für den Ruin ihrer eigenen Kommunen gesorgt haben – und dass genau das die soziale Schieflage für jede*n Vierte*n oder Fünfte*n immer weiter verstärkt. Da fehlt nicht nur Geld für die Bildung vor Ort, sondern auch für wichtige Instandhaltungen und notwendige Investitionen in soziale Gerechtigkeit, bezahlbare Wohnungen oder in die Klima- und Verkehrswende. „Wir haben kein Geld und müssen sparen“, erklären sie Mal um Mal mit wichtiger und besorgt scheinender Miene und spielen sich verantwortungsbewusst auf. Eine weitere Phrase: „Wir müssen an die Kinder von morgen denken“…
Und während sie so „denken“ (und das wohl wirklich selber glauben), steigt die Armutsrate bei den jetzigen Kindern in einigen Stadtvierteln auf 50 Prozent, denn an diese Kinder (und deren Eltern) denken sie dabei nicht so gern, schließlich kommen viele Kommunalpolitiker*innen eher aus dem gutsituierten Milieu – und dort gibt es mit zugeparkten Nebenstraßen, dem Erhalt vielfältigster Konsummöglichkeiten, schmückenden Gartenschauen und dem Freischaufeln von Orten für viel zu teures Bauen scheinbar genug zu tun…
Als willige Erfüllungsgehilfen für vom Bund verordneter staatliche Armut im Hartz-IV- und im Niedriglohnbereich sowie der vom Land verordneten finanziellen Daumenschrauben eilen sie wichtig durch die Rathausflure, täuschen Aktion in der Not vor – und stehen letztendlich doch da wie der Kaiser mit seinen neuen Kleidern…
Nein, die Kommunen können die unsoziale Politik des Bundes wirklich nicht von sich aus beseitigen, sie können Hartz IV und entwürdigend niedrige Löhne vor Ort nicht abschaffen und sie können sich in ihrer Finanznot nicht selber aus der Bundeskasse bedienen – aber sie tragen für die „Sozialfalle“ der Kommunen ein gerüttelt Maß an Mitverantwortung.
„Dort wo die Stadt handeln kann, muss sie es auch tun!“, so habe ich es jüngst beschrieben: Für (wirklich!) bezahlbare Wohnungen, ein Sozialticket im Nahverkehr, moderne Schulen und so einiges mehr müssen jetzt Investitionen her – jetzt, und nicht erst in ein paar Jahren, damit das Sozialgefüge nicht weiter auseinanderdriftet und der Verfall städtischen Eigentums gestoppt wird.
Wer da mit dem Verweis auf leere Kassen nur mit den Schultern zuckt, wie es bei vielen kommunalen Parteien, die sich der Sparwut und der sozialen Blindheit verschrieben haben, der Fall ist, wird der politischen Verantwortung nicht gerecht. – Als vor einigen Monaten im Flensburger Sozialausschuss ein Sozialticket für den ÖPNV, das seitens der Verwaltung eigentlich als nicht finanzierbar dargestellt wurde, diskutiert wurde, zogen die meisten Parteien sofort den Schwanz ein.
Ich traute damals meinen Ohren nicht, als ein Ratsmitglied vorschlug: „Können wir den Leuten dann nicht einfach eine Streifenkarte geben?“ – 5 (in Worten: fünf!) Freifahrten als Almosen für „die Leute“, die ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Nix begriffen, aber für einen peinlich-delikaten Hüftschuss reicht es wohl immer noch…! Wo leben wir eigentlich…?
Besonders die kommunalpolitischen „Leute“ von SPD, CDU, Grünen und FDP (also den Parteien, die in Bund und Ländern Mehrheiten stellen) müssen sich, statt immer wieder um den heißen Brei herumzureden und sich hinter den derzeitigen asozialen Gegebenheiten zu verstecken, bei ihren Bundes- und Landtagsabgeordneten endlich mal heftigst in die Kurve legen, damit der unsoziale Sparwahn und die Ignoranz den Ärmsten gegenüber gestoppt wird: „Geld her! Und Armut per Gesetz stoppen!“, muss ihre Ansage lauten (bisher steht die Linkspartei mit diesen Forderungen fast alleine da)…
Tun sie das nicht, können sie so viele Beschlüsse zur „Haushaltskonsolidierung“ oder zur „Attraktivität der Kommunalpolitik“ fassen, wie sie wollen, denn dann sinkt die Wahlbeteiligung noch weiter als die letzten, sehr kümmerlichen 35 Prozent…
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Sozialpolitik: „Was die Stadt tun kann, muss sie auch tun!“
06.08.2020
Die Tageszeitung „Flensborg Avis“ führte mit mir ein Interview zur Notwendigkeit einer sozialer ausgelegten Politik in Flensburg. Die Redaktion bezieht sich mit dem Artikel, den ich hier vom Dänischen ins Deutsche übertragen habe, auf die jüngste Pressemitteilung der Ratsfraktion DIE LINKE.

„Es trifft immer wieder die Schwachen“
Herman U. Soldan-Parima (Die Linke) sieht in Flensburg eine massive materielle Armut und wachsende soziale Schieflage. Als erstes muss es um sozialen Nahverkehr und gerechte Mieten gehen.
„Die materielle Armut in Flensburg war schon immer hoch. Die Corona-Situation hat diese Situation jetzt verschärft. Wir müssen feststellen, dass es immer wieder die materiell Schwøchsten trifft. Dagegen muss bald etwas geschehen.“, sagt Herman U. Soldan-Parima, bürgerliches Mitglied der Ratsfraktion Die Linke, die er im Sozial- und Gesundheitsausschuss der Stadt vertritt. Der 58-Jährige nutzt die jüngste zweistellige Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Flensburg, um auf soziale Ungleichheit in Flensburg hinzuweisen.
Herman U. Soldan-Parima macht deutlich, dass im vergangenen Jahr mindestens jede*r Fünfte in Flensburg von materieller Armut betroffen oder sogar schwer betroffen war. Er verweist unter anderem auch darauf, dass jedes zweite Kind in bestimmten Teilen der Stadt in Flensburg in Armut lebt und dass bereits im Juni 11.600 Menschen Hartz IV in der einen oder anderen Form bezogen haben.
„Die Stadt kann und muss hier handeln“, erklärt Herman U. Soldan-Parima. „Ein wichtiges Thema ist der öffentliche Verkehr. Viele Menschen können es sich überhaupt nicht leisten, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Deshalb wollen wir weiterhin die Einführung eines Sozialtickets, ein Thema, das wir ganz oben in der Schublade haben, das aber leider noch nicht Realität geworden ist. Wenn es eingeführt würde, hätte etwa ein Viertel der Bevölkerung von Flensburg Anspruch auf eine Monatskarte für 24,75 Euro pro Monat oder Einzelfahrscheine für 1,10 Euro“, sagt Herman U. Soldan-Parima.
„Der zweite Punkt, und er ist nicht ganz neu, ist die Wohnsituation. Es gibt einen Mangel von mindestens 4.500 Wohnungen für Menschen mit niedrigen Einkommen. Wir brauchen nicht nur den sozialen Wohnungsbau, sondern auch Wohnraum für andere mit wenig Geld. Frank Hamann und Lucas Plewe von der Ratsfraktion Die Linke haben berechnet, dass der Quadratmeterpreis für diese bezahlbaren Mieten 7 Euro betragen sollte“, fährt er fort.
Die Linke ist überrascht und kritisiert, dass ihre Vorschläge zum Sozialticket und zu bezahlbarem Wohnraum von der politischen Mehrheit abgelehnt werden, obwohl Sympathie für die Vorschläge besteht. „Es ist doch grotesk, dass wichtige politische Signale auf diese Weise ausgebremst werden!“, sagt Soldan-Parima. Daher werden sich die Linksfraktion und Soldan-Parima weiterhin auf diese Themen konzentrieren.
„Eine Stadt wie Flensburg, in der mehr als ein Viertel der Einwohner von massiver materieller Armut betroffen ist, kann wirtschaftlich nicht funktionieren, wenn all diesen Menschen die soziale und wirtschaftliche Teilhabe nicht zugestanden wird“, meint Die Linke.
Warum ist es in Ihren Augen nicht gelungen, dies in Flensburg zu lösen? – „Weil der Fokus oft auf vielen andern Dingen liegt, z.B. auf Stadterneuerungs- und Bauprojekten. Und bei den allgemeinen Leitlinien Gleichstellung und Klima fehlt die dritte Säule, der soziale Bereich. Es wird oft gesagt, das könnten wir uns nicht leisten. – Ich aber meine: Wir können uns soziale Armut nicht leisten“, sagt Herman U. Soldan-Parima. „Schauen wir uns in der Ratspolitik die soziale Schieflage an und geben ihrer Beseitigung eine hohe Priorität, anstatt uns davor wegzuducken, denn das steht uns nicht gut an“, schließt er.
Text: Marc Reese / Flensborg Avis
Übertragung aus dem Dänischen: Herman U. Soldan-Parima

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Es geht schon wieder „schief“…
Die Krisenbewältigung ist vielschichtig – aber die GroKo-Regierung bleibt fantasielos und scheut eindeutig soziale Maßnahmen
06.05.2020

Die Folgen des wirtschaftlichen Stillstands in den letzten zwei Monaten der Corona-Krise werden teuer – sehr teuer! Und Geld scheint knapp zu sein. Oder es wird wieder einmal mit unsozialen Vorzeichen „verteilt“, obwohl genau das die finanzielle und mentale Situation in der Bevölkerung verschärft. Eine unselige Rolle spielen dabei vornehmlich die großen Konzerne und sog. „Schlüsselindustrien“, die mit ihrer (Lobby-)Macht erheblichen Druck auf die Regierung ausüben, um sich an den Fördermitteltrögen zu laben.
Der Umfang der entstandenen wirtschaftlichen Krise ist noch immer schwer einzuschätzen – aber eines ist sicher: Der „Shutdown“, den die politisch Verantwortlichen vor knapp zwei Monaten durchsetzen mussten, hinterlässt Angst, Sorgen und noch weniger Geld bei den wirklich Betroffenen – den Beschäftigten mit niedrigem Einkommen und schlechten Arbeitsbedingungen. Bei vorher schon hoher Armutsquote ist das eine millionenfach persönliche, aber auch eine gesellschaftliche Katastrophe.
Für Millionen (und ihre Familien) reicht das Kurzarbeitergeld vorne und hinten nicht, die Zahlen für das armutsfördernde „Hartz IV“ schnellen deshalb in die Höhe. Viele wissen nicht, wie sie mit ihrem ohnehin knapp bemessenen Alltagbudget über die Runden kommen sollen – und mit 20 oder 40 Prozent weniger schon gar nicht. Auch arbeitslos zu werden, ist nun eine noch viel größere Bedrohung. – Doch die Bundesregierung aus Union und SPD scheint daraus keine angemessenen Konsequenzen ziehen zu wollen. Viele Beschlüsse sind deswegen nur „halb“ – und halbherzig!
Anders sieht es bei den „Großen“ aus: Da scheint es ein Leichtes zu sein, 10 Milliarden Kreditbürgschaften für die Lufthansa anzupacken oder den Automobilkonzernen mit einer neuen Kaufprämie Anschub-Milliarden in Aussicht stellen zu wollen. – Dabei haben diese Konzerne in den vergangenen Jahren zweistellige Milliardensummen erwirtschaftet, und sie kriegen (wie andere Unternehmen auch) die Kurzarbeit teilfinanziert.
Konzerne, die ihr Vermögen in Steueroasen verschieben, um den Staat um Steuern in Milliardenhöhe zu prellen, oder die ihre Aktionäre mit hohen Dividenden (ebenfalls in Milliardenhöhe) bedenken, halten fordernd ihre Hand für die knappe Staatsknete auf… Aber die GroKo positioniert sich nicht eindeutig dagegen – und so steht zu befürchten, dass Steuermilliarden in den ganz falschen Taschen landen werden, anstatt für eine notwendige soziale Absicherung für Millionen von Menschen zu sorgen!
Wie bei der sog. „Finanzkrise“ vor zehn Jahren muss nun befürchtet werden, dass die Menschen mit mittleren und kleinen (auch mit Transferleistungs-)Einkommen sowohl während als auch nach der Krise große Teile dieser unsozialen Politik, die sich gegen sie richtet, zu bezahlen haben. Mit vermeintlichen „Sachzwängen“ und weiteren „Corona-Prophetien“ wird dafür schon der Weg bereitet.
Es scheint in der Mehrheitspolitik kein notwendiges Umdenken für gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge zu geben. Für eine konservative Partei mag das ja auch konsequent sein – aber wie verhält sich die SPD (und vor allem ihr neu gewähltes vorgeblich anti-neoliberales Führungsduo) dazu…? Bisher hat sie lediglich einiges Schlimmes verhindern können und musste sich auf teils fragwürdige Kompromisse, wie das unzureichende Kurzarbeitergeld, einlassen. – Das lässt nichts Gutes für die nahe Zukunft erahnen…
Dabei ist klar, was nun zeitnah angepackt werden muss: Eine Vermögensabgabe für Millionäre als gesellschaftlicher Lastenausgleich, eine dauerhafte Vermögenssteuer von 5 Prozent ab der 2. Million (so knapp ist das Geld nämlich gar nicht!), eine wirksame Kapitalertragssteuer, ein Kurzarbeitergeld von mindestens 90 Prozent, öffentliche Investitionen in soziale und ökologische Schwerpunkte sowie höhere Mindestlöhne und Mindestrenten, die vor Armut schützen – um nur mal einige wichtige Punkte zu nennen. – Das ist nicht einfach nur „links“, sondern es ist gesunder Menschenverstand, um den für den Wohlstand und die Demokratie notwendigen Zusammenhalt der Gesellschaft wiederherzustellen. „Wann wird man je versteh’n…?“
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Auch diese Krise stellt die „soziale Frage“!
18.03.2020

Ja, es geht zuallererst um unsere Gesundheit und um die Eindämmung des Coronavirus’. – Dazu werden derzeit staatliche Maßnahmen ergriffen, die tief in das private Leben, aber auch in die ökonomischen Lebensgrundlagen eingreifen. Vieles davon erscheint einleuchtend, manchmal sogar „alternativlos“ – anderes wird hingenommen mit der Ahnung, dass die politisch Verantwortlichen „dabei auch Fehler machen können“, wie es die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen vor einigen Tagen ausdrückte.
Doch gleichzeitig wird derzeit umso deutlicher, dass in einer solchen Lähmung der Gesellschaft fast alles immer noch „am Gelde hängt“. Es trifft kleinere Unternehmen, die eigentlich Löhne und Gewerbemieten zahlen müssen, besonders hart. Aber eben auch deren Beschäftigte – und auch diejenigen, die ohnehin schon zu wenig zum Leben haben. Und so wird die soziale Schieflage auch in der Corona-Krise deutlich:
Wenn Millionen von unterbezahlten Menschen jetzt – wenn sie „Glück“ haben – wie ihre besser bezahlten Kolleginnen und Kollegen 60 Prozent Kurzarbeitsgeld erhalten, bringt sie das immer noch an den Rand des finanziellen Ruins. Und es gibt viele (z.B. auch „Solo-Selbstständige“), die gar nichts mehr bekommen, so dass für sie wie auch viele Niedriglohnbeschäftigte der sorgenvolle Gang zum Jobcenter droht. Unbürokratische Lohnaufstockungen oder Lohnersatzleistungen sind derzeit nicht in Sicht…
Seit Jahren müssen immer mehr ältere Menschen mit zu niedrigen Renten noch zusätzlich Geld verdienen, um über die Runden zu kommen. Doch durch die derzeit großflächige Schließung von Erwerbsmöglichkeiten wird ihnen der notwendige Zuverdienst bitter fehlen. – Auch viele Familien (besonders Alleinverdienende) kommen wohl bald in die Klemme – und dabei geht es dann wohl weniger um die Betreuung ihrer Kinder. Bei gestutzten und wegfallenden Einkommen stellt sich auch für sie die Frage, wie Miete, laufende Kosten und die notwendigen Alltagsausgaben auf Sicht eigentlich noch bezahlt werden sollen…
Dies sind nur wenige Beispiele für bittere Eingriffe in die private Lebenssituation, aber sie treffen weite Teile der Bevölkerung. – Und dafür müssen schnell Lösungen her, damit die Corona-Krise nicht zu einer umfassenden materiellen Krise für Millionen wird! Um das Schlimmste auch langfristig zu verhindern, müssen jetzt unumgängliche Umverteilungen her, denn die „Sache“ wird vorhersehbar recht teuer werden, weil vieles nun mal „am Gelde hängt“!
Solidarität ist jetzt nicht mehr nur in der Nachbarschaft angesagt. Viele nötiger ist jetzt die Solidarität der Reichen und Reichsten, die sich bei dieser Krise auch nicht mehr aus dem Staube machen können, mit der Gesellschaft. – Was bisher nur eine linke Outsider-Forderung war, sollte jetzt von den politischen Mehrheiten zumindest als „Einsicht in die Notwendigkeit“ aufgegriffen werden: Eine umfassende Vermögens-, Erbschafts- und Kapitalertragssteuer, die den vielen materiell nun noch stärker gefährdeten Menschen, aber auch kleinen Unternehmen zugute kommen kann! Eine solche soziale Umverteilung steht ohnehin schon lange an…
Darüber hinaus sollten unnötige Ausgaben auf allen politischen Ebenen in die soziale Grundversorgung umverteilt werden. – Und dass sich ein Teil des Militärbudgets jetzt auch erübrigen kann, sollte nicht länger außer Frage stehen… Es gibt also einiges zu tun und sozial umzuverteilen, und zwar sehr schnell, bitteschön!!!
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Wo bleibt das politische Primat der sozialen Gerechtigkeit?
Oder: Warum sich viele Menschen eine gerechtere Politik wünschen, die politische „Linke“ aber schwach bleibt.
15.12.2019

Die Frage nach der Einführung einer Vermögenssteuer wurde in einer Meinungsumfrage jüngst von 72 Prozent positiv beantwortet. Dies ist ein klares Votum, auch wenn die Motive und sonstige politische Haltungen der Befragten dabei nicht erkennbar sind. Eine wenn auch etwas knappere Mehrheit von 55 Prozent lehnt die gültigen Hartz-IV-Gesetze ab, einen Mindestlohn von 12 Euro befürworten bis zu 80 Prozent und einen Mietendeckel könnten sich zwei Drittel vorstellen. – Angst vor sozialem Abstieg und Armut haben (je nach Umfrage) 55-65 Prozent der Befragten.
Dies sind Meinungsbilder, die eine relativ klare Sprache sprechen, die aber in der praktischen Politik nur wenig Niederschlag finden. Wir kennen die Ergebnisse der jahrzehntelangen unsozialen Politik: Jede/r 6. ist von Armut betroffen oder stark bedroht (bei Kindern sogar jedes 5.), jede/r 5. arbeitet im Niedriglohnbereich und 1,5 Millionen Menschen müssen mit Hartz IV aufstocken. Die Zahl der armen RentnerInnen steigt, viele können die steigenden Mieten nicht mehr oder nur noch schwer bezahlen. Diese Liste ließe sich fortführen…
Unsoziale Politik schließt seit Jahren Millionen Menschen aus
Es ist keine neue Einsicht, dass die unsoziale Politik viele Menschen ausschließt, dass viele sich nicht mehr wahrgenommen fühlen und mit ihrer bedrängten Lage (oder der berechtigten Angst davor) die aktive Mitwirkung bei Wahlen und anderen gesellschaftlichen Aufgaben einstellen oder emotional in unreflektierten Protest à la AfD oder Pegida verlagern. – Dennoch rührt sich die Mehrheit der Politik nicht oder bietet bestenfalls einige Schönheitsreparaturen an, die einen radikalen Richtungswechsel hin zu einer glaubhaften sozialen Gerechtigkeit vermissen lassen.
Die SPD befürwortet seit kurzem die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer: 1 Prozent ab 2 Millionen. Gut miaut, Kätzchen, aber das ist noch nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein! – Eine von der SPD in der GroKo durchgesetzte Grundrente, die 1. zu niedrig ist und 2. nur für Menschen mit 35 Beitragsjahren gilt, lässt die Schwächsten außen vor. Kein Grund zum Jubeln also! Dass die Einsicht für einen armutsfesten Mindestlohn von mindestens 12 Euro bei SPD und Grünen drei Jahre dauert, ist ein schlechter Witz! – Und dass Hartz IV nicht „mehr zeitgemäß ist“ (und auch niemals war!) fällt diesen beiden Parteien, die die unsoziale „Agenda“ dereinst auf den Weg gebracht haben, erst nach 20 Jahren ein. Wie sozial eine armutsverhindernde Mindestsicherung wirklich sein muss, dazu herrscht Schweigen im Walde!
Da ist es kein Wunder, dass sich Millionen von Menschen aus diesen und anderen Gründen enttäuscht oder erbost von der derzeitigen Parteipolitik abwenden und die „Demokratie“, die sie materiell enteignet und den Reichsten ein milliardenschweres Privileg nach dem anderen zugeschustert hat (und dabei auch noch ihre kriminellen Steuerhinterziehungen duldet!), nicht mehr als die ihre ansehen.
Ungleichheit hebelt Demokratie und Freiheit aus
Trotz aller hübschen Lippenbekenntnisse von SPD und Grünen in den vergangenen Monaten ist eine wahre Umkehr zu sozialer Gerechtigkeit jedoch nicht (mehr) zu erwarten. Für die Schwächsten allemal nicht! Wer darauf noch immer hofft, begibt sich in den Dschungel unerfüllbarer Illusionen.
Die Demokratie bleibt so weiterhin in Gefahr. Das zeigt auch die bleibende Stärke der rechtsextremen AfD. Hier sammeln sich Wut, Enttäuschung und Frustration. Ihre Wähler sind nicht alle „Nazis“, aber sie nehmen im Zuge der geschwächten Demokratie (siehe oben) in Kauf, diese Szene zu stärken – und teils auch nachträglich rechtsextremes Gedankengut zu übernehmen. Ich habe das Zitat schon öfter verwendet: „Es muss ein Klima vorhanden sein, in dem Fremdenfeindlichkeit und Neonazismus gedeihen können“. – und genau dieses Klima wurde in der BRD (und anderswo!) mit sich zuspitzenden kapitalistischen Auswüchsen seit Jahrzehnten immer mehr erzeugt.
Rechte Gesinnung ist eben keine demokratische Meinung wie viele andere; sie blendet Mitmenschlichkeit aus, sie ist aggressiv und irrational. Da spielt es dann auch gar keine Rolle mehr, dass die AfD gar keine sozialen Botschaften hat und in ihren programmatischen Grundzügen eine radikal-kapitalistische Partei ist. Das haben rechtsextreme Parteien nun mal so an sich, und dies bestätigt die These, dass „der Kapitalismus den Faschismus in sich trägt“. Geschichte und Gegenwart liefern dafür weltweit erschreckende Belege.
Es muss ein politisches Primat der sozialen Gerechtigkeit geben
Millionen von Menschen aus der Ecke des rechten Ungeistes und der damit verbundenen Horizontverengung wieder herauszuholen, dürfte sich als schwierig erweisen – insbesondere wenn die Mehrheit der im Bundestag vertretenen Parteien so weitermacht wie bisher und nicht den Mumm hat, den von ihnen herbeigeführten unsozialen Kern der Gesellschaft zu beseitigen. Trostpflästerchen, hübsche Lippenbekenntnisse und Almosen, wie sie derzeit durch die Medien geistern, reichen hier nicht aus!
Wenn nicht endlich „das Soziale“ zum bestimmenden Element der politischen Debatten wird, bleibt unsere Demokratie und die Freiheit und der Frieden in gefährlicher Schieflage und Hass, Hetze, Gewalt, Kriminalität und Totalitarismus werden die Demokratie weiter aushebeln.
Eine gerechte Steuerpolitik (und eine Vermögenssteuer, die diesen Namen auch verdient), die endlich wieder von oben nach unten rückverteilt, ist Sozialpolitik. Auskömmliche Löhne und Renten sind Sozialpolitik, eine demokratisierte Wirtschaft ist Sozialpolitik, bezahlbare Mieten sind Sozialpolitik – und ebenso ein für alle attraktiver Nah- und Fernverkehr, die notwendige Abrüstung und erst recht eine nachhaltige Klimapolitik sind Sozialpolitik.
Sollte all dies nicht sehr bald unter dem Primat der sozialen Gerechtigkeit diskutiert und möglich gemacht werden, könnten sich nicht zu unterschätzende Teile der Bevölkerung notwendigen Veränderungen und Erneuerungen weiter verschließen und diese schwieriger oder teilweise unmöglich machen!
DIE LINKE sollte jetzt ihren sozialpolitischen Vorsprung nutzen
Es gibt eine Partei, die in dieser Neuorientierung auf das Primat der sozialen Gerechtigkeit ohne viele Verrenkungen sofort „loslegen“ könnte – das ist die (meine) Partei DIE LINKE. Sie hat dafür bereits notwendige Beschlüsse für soziale Gerechtigkeit gefasst, bleibt aber bei deren Propagierung derzeit noch zu farblos und leistet sich interne Ideologiedebatten und Flügelkämpfe, die die Außenwirkung seit mehr als zwei Jahren lähmen.
Weil DIE LINKE aber nach außen noch nicht überzeugend genug auftritt oder sprachlich undeutlich bleibt, leidet auch sie an der Abkehr oder der Abwanderung von früher interessierten Menschen und stagniert in der politischen Landschaft. Dennoch: DIE LINKE bleibt ein wichtiger politischer Faktor für eine erneuerte soziale (und damit auch re-demokratisierte) Gesellschaft.
Sie sollte ihren (noch) bestehenden Vorsprung schnellstmöglich nutzen. Mehrheiten in der Bevölkerung hätte sie dafür. Sie könnte somit in der politischen Debatte und sogar bei zukünftigen Minderheitsregierungen tonangebend (und verstärkt wählbar!) werden. Das LINKE Bekenntnis zum demokratischen Sozialismus ist als Leitlinie wichtig (aber für viele Menschen nicht konkret und damit auch nicht wahlentscheidend). Viel wichtiger ist allerdings ihr „nach außen“ sichtbares Tun für eine sozial (wirklich) gerechte Gesellschaft.
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Es gibt kein „Aber“: Hartz IV muss weg!
04.11.2019

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ heißt es im Artikel 1 des Grundgesetzes – doch genau dagegen verstößt die erniedrigende und armutsfördernde Praxis dieser unsozialen Alimentierung. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht kurz bevor.
Aus Kanzler Schröders „Fördern und Fordern“ (2003) wurde nach Einführung des Hartz-IV-Zwangsregimes schnell ein „Drohen und Ducken“. Dies trifft seitdem Millionen von Menschen, die arbeitslos sind, die als „schwer vermittelbar“ gestempelt werden oder die ihre von Rot-Grün sowie CDU und FDP eingeführten Niedriglöhne aufstocken müssen.
Nicht nur, dass Hartz IV an die oft mühsam angesparten kleinen Besitztümer der Betroffenen geht, bevor es zu Auszahlungen der viel zu niedrigen „Transferleistung“ kommt – auch die teils rabiate Durchleuchtung der privaten Verhältnisse ist entwürdigend. Darüber hinaus greift die Sanktionierung (heißt: teilweise oder gänzliche Streichung der Unterstützung) direkt in die Persönlichkeit und eine den Lebensunterhalt sicherndes Existenzminimum ein. Für viele bedeutet dies Angst, Aussichts- und Chancenlosigkeit und soziale Isolation.
Das menschenunwürdige Hartz-IV-System mit seinen Repressalien, Erniedrigungen und Sanktionen ist und bleibt also Armut per Gesetz. Es macht die soziale und kulturelle Teilhabe unmöglich, es befördert Kinder und Jugendliche in die Armutsschleife und verschlechtert ihre Bildungschancen. Persönliche Insolvenzen steigen und die Wohnungslosigkeit auch. All das ist mehrfach nachgewiesen – und dennoch denken SPD, Grüne, CDU und FDP nicht (und die AfD übrigens auch nicht!) an eine generelle Abschaffung. Bestenfalls wollen SPD-Linke und Grüne ein wenig an den Symptomen herumdoktern, doch „Schröders und Fischers Schatten“ bleibt.
Gesellschaftlich hat die sog. „Agenda 2010“ mit Hartz IV, Niedriglöhnen, Leiharbeit und steuerlicher Umverteilung nach oben eine Katastrophe verursacht. Millionen von Menschen nehmen nicht mehr aktiv am öffentlichen Geschehen und an den politischen Debatten teil. Sie gehen nicht mehr wählen – oder sie wählen aus Protest oder anderen Gründen rechtsextrem. Das betrifft auch Teile der sog. „Mittelschicht“, die vom Sozialabbau ebenso bedroht sind.
Neben der „unantastbaren Würde“ (Art. 1 GG) bricht dieses System millionenfach gleich mehrere Grund- und Menschenrechte, so zum Beispiel auch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit oder das Recht der Kinder auf chancengerechte Bildung. Dass durch die Agenda-Niedriglohngesetze auch die Arbeitgeber subventioniert werden und dass Millionen von Menschen Altersarmut fürchten müssen, gehört ebenfalls in diese Diskussion.
Wie auch immer das Verfassungsgericht urteilen mag: Wenn es um die Menschlichkeit und um eine sozial angelegte Gesellschaft geht, gibt es kein „Aber“ zur Abschaffung von Hartz IV!
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Soziale Gerechtigkeit ist mehr als nur „mehr Geld in der Tasche“
Mit dem Sozialabbau hat der Neoliberalismus auch die Demokratie ausgehebelt und damit rechte Strukturen befördert, meint Herman U. Soldan – und genau in Sachen sozialer Gerechtigkeit sollten linke Kräfte besonders aktiv werden…
13.10.2019

Wir wissen alle, dass die Einkommens- und Vermögensverteilung in unserer Gesellschaft sich in einer immer stärker werdenden Schieflage zugunsten der reichsten 10 Prozent und zu Ungunsten für die Mehrheit der Bevölkerung befindet. Wir kennen auch alle die katastrophalen Folgen: Kinder-, Familien- und Altersarmut, Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe und von Freizeitgestaltung, Abgehängt-Sein, Existenzängste um die Wohnung und das tägliche Wohl – und „last but not least“ die viel zu niedrigen Einkommen und Renten.
Armut und Sozialabbau sind politisch gewollt
Diese Situation ist nicht vom Himmel gefallen. Spätestens seit den 1980er und 90er Jahren haben die Eliten und Konzerne – bisher „erfolgreich“ – die staatlichen Sozial- und Wohlfahrtssysteme in fast ganz Europa torpediert und mit den oben genannten Folgen ausgehebelt. Dies war und ist ein kapitalistisches Roll-Back von früher erkämpften, sozialen Errungenschaften. Mit einer groß angelegten Propagandaoffensive hat die Eliten-Lobby die neue („neoliberale“) Idee vom „schlanken Staat“ schon vor langer Zeit in die Politik getragen. Dem haben sich auch Sozialdemokraten und Grüne in der BRD nicht widersetzt – vielmehr haben sie den sozialen Kahlschlag zugunsten der Eliten wissentlich mitgemacht.
Die Ergebnisse dieser Politik sind für Millionen von Menschen katastrophal – und um möglichen Protest zu bremsen, wurde sie als „alternativlos“ und „zukunftssichernd“ als „Reformen“ verkauft. Die materielle Enteignung führte zum Ausschluss breiter Bevölkerungsschichten (bis hin zum ebenfalls bedrohten Mittelstand) und – schlimmer noch – zu massenhafter Resignation, Wut und politischer Verweigerung (z.B. bei Wahlen oder in der kommunalen Demokratie). Eine grundlegende Solidarität blieb von politischer Seite weitgehend aus. In den vergangenen Jahren hat dies also auch für die demokratischen Strukturen katastrophale Verwerfungen mit sich gebracht.
Mit Frust und Wut in die Wahlverweigerung oder an den rechten Rand
Kurz: Das „neoliberale“ Roll-Back hat nicht nur materielle Unsicherheit für Millionen erzeugt. Vielmehr hat er die „Demokratie für alle“, und damit die Basis dieser Gesellschaft, ausgehebelt und das Sozialstaatsgebot des BRD-Grundgesetzes ad absurdum geführt. – Dies wurde von SPD und Grünen nie (und von CDU/CSU und FDP schon gar nicht) thematisiert. Und so bleibt in der (nicht nur) subjektiven Wahrnehmung vieler Betroffener das Bild von Politik als „neoliberalem Debattierclub“, der an den Wurzeln der sozialen Verwerfungen gar nicht rühren und der ihre Lebenssituation gar nicht grundlegend verbessern will.
In dieser Situation einer „schiefen“ (und geschwächten) Demokratie bedarf es nicht vieler falscher Impulse, um „blinden Protest“ zu erzeugen, der sich genau gegen die neoliberale Konsenssoße richtet, die die derzeitige parlamentarische Demokratie beherrscht: Das Führen von Kriegen (das nie mehrheitsfähig war!), das zunehmende und geduldete Protzen mit ergaunertem Reichtum (milliardenschwere Steuerhinterziehung inklusive!), eine Flüchtlings- und Integrationspolitik, die zwar nicht falsch, aber falsch angelegt war (und von vielen in der eigenen bedrängten Situation als Bedrohung für eigene Chancen empfunden wurde), das hemmungslose Spekulieren mit Wohnungen und Mieten (hier geht es ans „eigene Reich“!) und noch so einiges mehr. – Nicht-Wählen ist daher eine häufige Reaktion, aber auch eine Protestwahl der Rechten. Der Demokratie schadet beides.
Neoliberale Politik befördert rechten Extremismus
Ein Blitzableiter für den „blinden Protest“ ist die AfD, die zwar bekanntermaßen deutliche neoliberale Standpunkte in der Sozial- und Wirtschaftspolitik einnimmt (und damit keine sozialen Hoffnungen erfüllt!), die sich aber in der Unzufriedenheit suhlen und davon profitieren darf. Die AfD – auch das ist bekannt – wird von vielen schließlich nicht aus rationalen Gründen gewählt.
Ein weiterer (und noch gefährlicherer) Blitzableiter ist die Radikalisierung in rechtsextreme und faschistoide Strukturen, die vermeintlich verloren gegangene Stärke auf Kosten anderer wiederherstellen sollen und die bis in die AfD hineinwirken und teils von ihr verstärkt und „gesellschaftsfähig“ gemacht werden. In der ohnehin „schiefen“ Demokratie ist dies brandgefährlich. Faschistischer Terror, rechte Netzwerke, menschenfeindliche Hetze und Rassismus sind bereits seit vielen Jahren etabliert.
Auch hier reagiert die mehrheitliche Politik nicht oder nur unzureichend – und entmachtet damit demokratische Strukturen immer weiter. Ordnungspolitisch wurden und werden rassistische Hetze und rechter Terror bis heute vertuscht, verharmlost und verdrängt – trotz deutlicher Ereignisse und Erkenntnisse. Da die AfD und die rechte Szene sich nicht grundlegend kapitalismuskritisch betätigen, werden von den zuständigen Stellen viele Augen zugedrückt. – Auch diese Entwicklung geht also auf das Konto der neoliberalen politischen Kreise, die sich dazu eher nur wortgewaltig verhalten, die notwendigen Präventionen und Sanktionen aber vernachlässigen.
Doch bei weitem nicht alle AfD-ProtestwählerInnen sind per se rechtsextrem, und sie verbitten sich Nazi-Vergleiche, auch wenn sie sich bei Wahlen aus Protest für ein diffuses rechtes, demokratiefeindliches Milieu entschieden haben (nicht wenige haben ja vor wenigen Jahren noch hoffnungsvoll links gewählt). Wenn einige linke Kreise sie nun pauschal als „Nazis“ titulieren, verstärkt dies bei einigen die Protesthaltung – und sie werden für linke Botschaften unerreichbar. Die AfD mag zwar eine geeignete Projektionsfläche sein, aber sie ist nicht das primäre Problem, denn sie profitiert de facto von den vorher entstandenen sozialen und kulturellen Verwerfungen der letzten Jahrzehnte – und dieser Zusammenhang wird meistens nicht ausreichend dargestellt.
Soziale Gerechtigkeit herstellen heißt, Demokratie zu stärken
Ein wichtiger Lösungsansatz für das Problem des wachsenden Rechts-Trends kann (und muss) also ein gründlicher Politikwechsel für soziale Gerechtigkeit sein. Aufgrund der tiefgehenden Verwerfungen bedarf es dazu auch grundlegender Umsteuerungen. Die massive materielle Ungleichheit muss durch Vermögenssteuern und ein gerechtes Steuersystem überwunden werden, damit endlich ausreichende Mittel für soziale Investitionen zur Verfügung stehen. Transferleistungen dürfen nicht länger mit Sanktionen verbunden und demütigend sein. Vielmehr bedarf es existenzsichernder Mindestlöhne, Mindestrenten und Mindestsicherungen. Darüber hinaus muss in eine soziale Klima- und Verkehrspolitik, aber auch in eine soziale Gesundheits,- Pflege- und Bildungspolitik, die allen zugute kommt, investiert werden.
Das Geld für ein soziales Umsteuern ist da, sei es im steuerlichen Rahmen, beim milliardenschweren Kapitalabfluss in Steueroasen oder bei einer deutlichen Reduzierung der Militärausgaben. Aber genau dies rührt am derzeit noch starken neoliberalen Dogma, von dem die „Parteien der Mitte“ nicht oder nur halbherzig ablassen wollen. – Doch wenn es schon „alternativlos“ war, den Sozialstaat zugrunde zu richten und damit die Reichsten zu subventionieren – dann ist es jetzt erst recht alternativlos, genau dies schnellstmöglich rückgängig zu machen!
Denn: Nur wer soziale Sicherheit spürt, wird sich als Teil der Gesellschaft fühlen und sich auch so verhalten. Soziale Gerechtigkeit ist der Garant für eine „Demokratie für alle“. Angesichts der ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Herausforderung ist genau dies eine Voraussetzung für bürgerschaftliches Engagement, für humanistisches Handeln – und gegen Rechts!
Nur eine gestärkte Demokratie kann die Herausforderungen der Zeit lösen
Und: Nur wer bereit ist, an den gesellschaftlichen Diskursen produktiv teilzunehmen, wird sich verantwortlich und zuständig fühlen. Und genau dies ist zum Beispiel die Voraussetzung für die Akzeptanz einer klima- und umweltfreundlichen Neuorientierung. – Ohne soziale Gerechtigkeit kriegen wir eine funktionierende Demokratie, vorurteilsfreie Debatten und auch ein engagiertes Klimabewusstsein nicht hin. Es geht also um mehr, als nur mehr Geld in der Tasche zu haben!
Es gibt durchaus eine Priorität für die Wiederherstellung oder Neueinführung der sozialen Gerechtigkeit, die für gesellschaftlichen Zusammenhalt und bürgerschaftliches (demokratisches!) Engagement sorgt. Dabei liegt es wohl überwiegend an den linken politischen Kräften, dies als Angebot an die vielen „weggelaufenen“ WählerInnen in den Mittelpunkt zu rücken. Hier hat es – auch bei der Partei DIE LINKE – in den letzten Jahren Versäumnisse gegeben, die dringend korrigiert werden sollten. Die traurige Konsequenz ist, dass auch DIE LINKE dadurch als „etabliert“ angesehen und von Hunderttausenden nicht mehr gewählt wird.
Es ist die „linke“ Verantwortung, den Menschen eine deutliche soziale Perspektive und Solidarität zu präsentieren, um die entstandene Wahlverweigerung zu überwinden. – Eine schlüssige, engagierte und solidarische Sozialpolitik ist zugleich der beste Antifaschismus und ein deutliches Signal für mehr Demokratie!
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