Was Willy Brandt und seine Regierung damals noch für Frieden und Verständigung zustande brachten, haben die Bundesregierungen seit den 1990er Jahren „vergessen“ und ignoriert – mit katastrophalen Folgen, wie sich nun in der Ukraine zeigt

Vergessen scheinen heute die 1970er Jahre, als es der damaligen Bundesregierung von Kanzler Willy Brandt und seinem unermüdlichen Vordenker und Verhandler Egon Bahr (beide SPD) sowie dem FDP-Außenminister Walter Scheel gelang, zwischen den beiden deutschen Staaten und für ganz Europa Initiativen für ein friedliches Miteinander zu entwickeln. Gegen den heftigen Widerstand der vielen „kalten Krieger“ im eigenen Land und bei den westlichen Verbündeten und gegen die Skepsis der Regierungen in der DDR, der Sowjetunion und den anderen Staaten Osteuropas konnte die damalige Regierung ein Verhandlungsnetzwerk schaffen, das ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural mehr Stabilität zum gegenseitigen Vorteil ermöglichte.
Die Entspannungspolitik der 1970er Jahre setzte auf Verhandlungsbereitschaft
Erwähnt seien hier die De-facto-Anerkennung der Nachkriegsordnung, der daraus resultierenden Grenzen sowie des herrschenden Status Quo zweier Machtblöcke mit unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen. Daraus entstand 1975 bei der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) die „Schlussakte von Helsinki“, der Meilenstein einer neuen Friedensordnung, vertiefter Beziehungen und des gegenseitigen Respekts mit dem Grundsatz der friedlichen Koexistenz. Alle europäischen Staaten sowie die USA und Kanada hatten damit trotz aller auch ideologischen Gegensätze und verschiedener Interessen einen Konsens erzielt, der die Spannungen entemotionalisierte und verhandelbar machte.
Aus der eigentlichen Initiative Willy Brandts und Egon Bahrs, die zunächst auf die Überwindung deutscher Sturköpfigkeit (auf beiden Seiten!) und auf friedliche Koexistenz mit den osteuropäischen Nachbarländern zielte, wurde ein neues gesamteuropäisches Fundament, das bis 1990 hielt, auch wenn sich der eine oder der andere Staat nicht immer an jeden Buchstaben der KSZE-Vereinbarung hielt. Aus dem Vertragssystem entwickelten sich dann auch mehrere Abkommen zwischen der Sowjetunion und den USA zur Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrolle, die der ganzen Welt Fortschritte, wenngleich auch keinen endgültigen Frieden brachten.
Die größer gewordene BRD steigt in der Balkan-Krise aus der Friedensordnung aus
Nach 1991, als sich der östliche Machtblock und die Sowjetunion aufgelöst hatten, war die politische Überlegenheit des Westens so groß, dass viele Bestandteile der politischen Koexistenz und der Kriegsverhinderung unter den Tisch fielen. So kam es 1992 zum Jugoslawien-Konflikt, in dem die USA, die EU und ganz vorne mit dabei die durch den Anschluss der DDR vergrößerte BRD den innerjugoslawischen Konflikt an sich zogen und die Separatstaaten Slowenien und Kroatien anerkannten. Das alles geschah unter dem Vorwand des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“, war aber de facto nichts Anderes als die Strategie, den westlichen Einfluss auf dem Balkan zu vergrößern. Daraus entwickelte sich ein jahrelanger, blutiger Krieg zwischen den jugoslawischen Teilrepubliken.
Neben dem Drang des Westens nach expandierendem politischen und wirtschaftlichen Einfluss spielte der Zugang zu Ressourcen wie Rohstoffen, billiger Arbeitskraft nebst Verlagerung von Industrieproduktion in den Osten Europas unter weitgehender Ausschaltung der dortigen Wirtschaftszweige die wichtigste Rolle für die gewaltsame Umgestaltung der Balkanregion.
Gregor Gysi sagte zu den Verwerfungen des deutschen Vereinigungsprozesses einmal: „Das Problem ist, dass der Westen nicht aufhören konnte zu siegen.“ Und so genehmigten sich USA, Nato und EU 1999 einen völkerrechtswidrigen Angriff auf Serbien, bei dem die westlichen Akteure ihre kriegerischen Aktionen hinter einseitig aufgeblähten Überschriften wie „Humanität“, „Freiheit“ und „Demokratie“ zu verbergen versuchten. Nur wenige Jahre später installierten sie mit der eigentlich serbischen Provinz Kosovo auch noch einen nicht funktionierenden Staat, dem ungeachtet aller Konflikte und der Korruption der dort Regierenden lediglich die Rolle eines USA-Militärstützpunktes mit der Kontrolle über Südost-Europa und den Nahen Osten zukam, viel mehr ist dieser künstliche Staat auch heute nicht.
Den damals maßgeblichen BRD-Politikern Gerhard Schröder, Rudolf Scharping (Kanzler bzw. Verteidigungsminister, beide SPD) und Josef Fischer (Außenminister, Grüne) fehlte gänzlich das Format von Brandt, Bahr und Scheel, um eine europäische Entspannungspolitik – diesmal auf dem Balkan – fortzusetzen oder wiederaufzunehmen. Deswegen ließen sie sich vor den Karren USA- und Nato-geprägter Interessen spannen – eine Entscheidung, die die Außenpolitik der BRD zum Mainstream westlicher Machtpolitik machte und die Notwendigkeit einer friedlichen Koexistenz verwarf.
Zu friedlicher Koexistenz unfähig: Berlins Rolle im Ukraine-Konflikt
In der Ukraine wandten die westlichen Staaten ab Anfang der 2000er Jahre andere Mittel an, um ihren politischen, militärischen und wirtschaftlichen Einfluss auszuweiten. Auf der Basis umfänglicher Geheimdiensttätigkeit wurde mehrfach der Versuch des Regime Changes unternommen, der aber erst 2014 im dritten Anlauf gelang. Dabei wurde nicht nur eine autoritäre Regierung vertrieben, sondern auch das Fundament dafür gelegt, die Ukraine in die EU und die Nato hineinzumanövrieren und damit Russland herauszufordern.
Die neuen, reaktionären (und ebenfalls korrupten) Kiewer Regierungen trieben dabei – vom Westen geduldet und nachweisbar gefördert – mehrere Provokationen gegen die russische Bevölkerung im eigenen Land, aber auch gegen Russland direkt voran. Noch 2014 versuchte das Kiewer Regime, die sich anbahnenden Separationsbestrebungen der russischen Bevölkerung militärisch zu unterdrücken und entfachte damit den so genannten „Bürgerkrieg“ in der Ostukraine. Ein Abkommen für einen Waffenstillstand und eine Autonomie der überwiegend russischsprachigen Bezirke („Minsk II“, 2015) wurde von der ukrainischen Regierung noch nicht einmal ansatzweise umgesetzt, und die Appelle zur Einhaltung aus westeuropäischen Regierungen blieben Lippenbekenntnisse, denn sie ließen die Kiewer Administration, die von den USA weitgehende Handlungsfreiheit erhielt, gewähren.
Durch die Kiewer Provokationen und Militäraktionen war die russische Regierung auf den Plan gerufen, nachdem ihre Appelle zu westlicher Zurückhaltung in der Ukraine konsequent ignoriert worden waren. Sie unterstützte mit militärischen Freiwilligen die Bevölkerung in der Ostukraine, und – wichtiger noch – nach dem Massaker gegen russischsprachige Gegner der Kiewer Eskalationspolitik, das von profaschistischen Verbänden im Mai 2014 im Gewerkschaftshaus von Odessa begangen wurde, besetzte sie die Halbinsel Krim, wo sich der Stützpunkt der russischen Schwarzmeer-Flotte befindet.
Großmacht-Konflikt eskaliert: Berlin hat keinen Mumm dazwischenzugehen
Der entrüstete Aufschrei der westlichen Regierungen über die Besetzung und die anschließend durch ein Referendum der überwiegend russischen Bevölkerung unterstützte Annexion der Krim, ließ ebenfalls das Ursache-Wirkung-Prinzip außer Acht. Was im Kosovo von westlicher Seite einige Jahre zuvor inszeniert worden war, fand nun seinen Nachfolger auf der Krim. Die westlichen Regierungen sprachen – wider besseres Wissen – von der staatlichen Integrität der Ukraine, erließen Sanktionen gegen Russland und ließen das ach so freiheitlich-demokratische Kiewer Regime weiter gewähren. Von bundesdeutscher Seite, das heißt von den durch Angela Merkel (CDU) geführten Regierungen, oft mit SPD-Außenministern, gab es in dieser Eskalation ebenfalls keine Initiative für eine neue friedliche Koexistenz der beiden Seiten. Die KSZE war 1995 zur OSZE geworden und agierte nur noch als zahnloser Tiger, weil der Westen ihr nicht mehr die höchste Priorität einräumte und gegen die Interessen Russlands – die Eingliederung der Ukraine in Nato- und EU-Strukturen vorantrieb.
Nach 2020 eskalierte der Konflikt. Insbesondere die USA, aber auch mehrere Nato-Staaten erhöhten ihre militärische Präsenz in der Ukraine, teils „undercover“, teils ganz offen. In der Ostukraine hingegen ließen sie die militärischen Aktionen Kiews weiterlaufen oder unterstützten sie politisch sogar. Alle Appelle und Warnungen aus Moskau verhallten dabei ungehört, so dass ab Ende 2021 mit einer militärischen Konfrontation über den ostukainischen „Bürgerkrieg“ hinaus gerechnet werden musste.
Im Februar 2022 trat diese Konfrontation mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ein. Die Player von Nato und EU versuchten rasch, jegliche Verantwortung für die jahrelange Eskalation abzustreifen und betrieben Wortakrobatik mit den schon bekannten Schlagwörtern „staatliche Integrität“, „Freiheit“, „Demokratie“ usw. Darüber hinaus wurde die totale Abwertung Russlands als „imperialistische Macht“, „Putins Rückkehr zur Sowjetunion“ und „keine Verhandlungen mit dem Diktator Putin“, teils sogar mit dem Kampfbegriff des „russischen Faschismus“ politisch und medial vorangetrieben. Übereilt verschärfte Sanktionen und Boykottankündigungen aus der EU, aber besonders aus der BRD verschärften die Lage außerdem – diesmal allerdings in den eigenen Ländern…
Seit Ende 2021 stellen SPD, Grüne und FDP die Bundesregierung. Kanzler Scholz (SPD), Außenministerin Baerbock und Wirtschaftsminister Habeck (beide Grüne) ergingen sich sogleich im Aktionismus der Verurteilungsspirale, in der aktuellen Situation unerfüllbaren Forderungen gegen Russland und einem Geflecht falscher wirtschafts- und energiepolitischer Entscheidungen. Nichts davon vermochte den Krieg einzudämmen oder gar zu beenden.
„Russland ruinieren“ ist das krasse Gegenteil von verantwortlicher Politik
Ministerin Baerbock tönt vielmehr schon seit dem Frühjahr 2022, das Ziel der wirtschaftlichen und politischen Blockade Russlands sei es, „Russland zu ruinieren“. Und seit im Sommer 2022 klar wurde, dass die Regierungsbeschlüsse zum übereilten Ausstieg aus russischem Gas und weiteren Wirtschaftssanktionen nach hinten losgingen und zuallererst die eigene Wirtschaft und Millionen von Menschen treffen, die die explodierenden Energie- und Lebenshaltungskosten nicht mehr bezahlen können, heißt es in Dauerschleife: „Die Verantwortung dafür liegt bei Putin“… Von den langjährigen Ursachen, die zur politischen und militärischen Konfrontation in der Ukraine geführt haben, wollen die Verantwortlichen (wie schon in den Jahren zuvor) nichts wissen.
Währenddessen mausert sich die BRD zum Waffenlieferanten an die Ukraine und formuliert den schon lange geträumten Anspruch, „militärische Führungsmacht“ zu werden. Und während die beidseitige Kriegspropaganda traurige, aber vor allem eskalierende Triumphe feiert, gibt es aus Berlin noch nicht einmal den Ansatz einer Friedensinitiative, um zumindest die brutalen Kriegshandlungen zu einem schnellen Ende zu bringen. Dabei sollte es nicht nur aus historischen Gründen den Deutschen darum gehen, Kriege – zumal in Osteuropa – so schnell wie möglich zu stoppen, zumal sie weitreichende wirtschaftliche und politische Konsequenzen für das eigene Land haben.
Wie am Anfang der 1990er Jahre oder bei der Eskalation eines Angriffs auf Serbien 1999 stecken die bundesdeutsche Regierung und weite Teile der Öffentlichkeit den Kopf in den Sand und sondern bestenfalls moralisierende oder eskalierende Phrasen ab. Die Scholz-Regierung aus SPD, Grünen und FDP legt damit ein erschütterndes Zeugnis darüber ab, wie wenig sie fähig und gewillt ist, den Weg von Willy Brandt, Egon Bahr und Walter Scheel zu gehen und positive Initiativen für eine nahe Zukunft der friedlichen Koexistenz zu erarbeiten. Insbesondere Willy Brandt hat seine Entspannungspolitik gegen den Widerstand und die Skepsis in Washington und einigen anderen Ländern durchsetzen können. Bei Scholz, Baerbock und Habeck ist noch nicht einmal ein Fünkchen der Erinnerung daran zu erkennen.
Ein Ende der derzeitigen Konfrontation und des Krieges kann es aber nur mit einer neuen europäischen Friedensordnung geben. Die Regierungen müssen die OSZE dazu in die Lage versetzen, zur gegenseitigen Kommunikation wie in KSZE-Zeiten und zu militärischer Rüstungskontrolle, die nicht mehr aus den USA torpediert werden darf, zurückzufinden. Dazu allerdings müssen sie – besonders in Berlin – eine ordentliche Portion Verstand und Analysefähigkeit bemühen, die ihnen seit vielen Jahren abhanden gekommen ist!