Mit dem Sozialabbau hat der Neoliberalismus auch die Demokratie ausgehebelt und damit rechte Strukturen befördert, meint Herman U. Soldan – und genau in Sachen sozialer Gerechtigkeit sollten linke Kräfte besonders aktiv werden…
Wir wissen alle, dass die Einkommens- und
Vermögensverteilung in unserer Gesellschaft sich in einer immer stärker
werdenden Schieflage zugunsten der reichsten 10 Prozent und zu Ungunsten für
die Mehrheit der Bevölkerung befindet. Wir kennen auch alle die katastrophalen
Folgen: Kinder-, Familien- und Altersarmut, Ausschluss von gesellschaftlicher
Teilhabe und von Freizeitgestaltung, Abgehängt-Sein, Existenzängste um die
Wohnung und das tägliche Wohl – und „last but not least“ die viel zu niedrigen
Einkommen und Renten.
Armut und Sozialabbau
sind politisch gewollt
Diese Situation ist nicht vom Himmel gefallen. Spätestens
seit den 1980er und 90er Jahren haben die Eliten und Konzerne – bisher
„erfolgreich“ – die staatlichen Sozial- und Wohlfahrtssysteme in fast ganz
Europa torpediert und mit den oben genannten Folgen ausgehebelt. Dies war und
ist ein kapitalistisches Roll-Back von früher erkämpften, sozialen
Errungenschaften. Mit einer groß angelegten Propagandaoffensive hat die
Eliten-Lobby die neue („neoliberale“) Idee vom „schlanken Staat“ schon vor
langer Zeit in die Politik getragen. Dem haben sich auch Sozialdemokraten und
Grüne in der BRD nicht widersetzt – vielmehr haben sie den sozialen Kahlschlag
zugunsten der Eliten wissentlich mitgemacht.
Die Ergebnisse dieser Politik sind für Millionen von Menschen katastrophal – und um möglichen Protest zu bremsen, wurde sie als „alternativlos“ und „zukunftssichernd“ als „Reformen“ verkauft. Die materielle Enteignung führte zum Ausschluss breiter Bevölkerungsschichten (bis hin zum ebenfalls bedrohten Mittelstand) und – schlimmer noch – zu massenhafter Resignation, Wut und politischer Verweigerung (z.B. bei Wahlen oder in der kommunalen Demokratie). Eine grundlegende Solidarität blieb von politischer Seite weitgehend aus. In den vergangenen Jahren hat dies also auch für die demokratischen Strukturen katastrophale Verwerfungen mit sich gebracht.
Mit Frust und Wut in
die Wahlverweigerung oder an den rechten Rand
Kurz: Das „neoliberale“ Roll-Back hat nicht nur materielle
Unsicherheit für Millionen erzeugt. Vielmehr hat er die „Demokratie für alle“,
und damit die Basis dieser Gesellschaft, ausgehebelt und das Sozialstaatsgebot
des BRD-Grundgesetzes ad absurdum geführt. – Dies wurde von SPD und Grünen nie
(und von CDU/CSU und FDP schon gar nicht) thematisiert. Und so bleibt in der (nicht
nur) subjektiven Wahrnehmung vieler Betroffener das Bild von Politik als
„neoliberalem Debattierclub“, der an den Wurzeln der sozialen Verwerfungen gar
nicht rühren und der ihre Lebenssituation gar nicht grundlegend verbessern will.
In dieser Situation einer „schiefen“ (und geschwächten)
Demokratie bedarf es nicht vieler falscher Impulse, um „blinden Protest“ zu
erzeugen, der sich genau gegen die neoliberale Konsenssoße richtet, die die
derzeitige parlamentarische Demokratie beherrscht: Das Führen von Kriegen (das
nie mehrheitsfähig war!), das zunehmende und geduldete Protzen mit ergaunertem
Reichtum (milliardenschwere Steuerhinterziehung inklusive!), eine Flüchtlings-
und Integrationspolitik, die zwar nicht falsch, aber falsch angelegt war (und von
vielen in der eigenen bedrängten Situation als Bedrohung für eigene Chancen
empfunden wurde), das hemmungslose Spekulieren mit Wohnungen und Mieten (hier
geht es ans „eigene Reich“!) und noch so einiges mehr. – Nicht-Wählen ist daher
eine häufige Reaktion, aber auch eine Protestwahl der Rechten. Der Demokratie
schadet beides.
Neoliberale Politik
befördert rechten Extremismus
Ein Blitzableiter für den „blinden Protest“ ist die AfD, die
zwar bekanntermaßen deutliche neoliberale Standpunkte in der Sozial- und
Wirtschaftspolitik einnimmt (und damit keine sozialen Hoffnungen erfüllt!), die
sich aber in der Unzufriedenheit suhlen und davon profitieren darf. Die AfD –
auch das ist bekannt – wird von vielen schließlich nicht aus rationalen Gründen
gewählt.
Ein weiterer (und noch gefährlicherer) Blitzableiter ist die
Radikalisierung in rechtsextreme und faschistoide Strukturen, die vermeintlich
verloren gegangene Stärke auf Kosten anderer wiederherstellen sollen und die
bis in die AfD hineinwirken und teils von ihr verstärkt und
„gesellschaftsfähig“ gemacht werden. In der ohnehin „schiefen“ Demokratie ist
dies brandgefährlich. Faschistischer Terror, rechte Netzwerke,
menschenfeindliche Hetze und Rassismus sind bereits seit vielen Jahren
etabliert.
Auch hier reagiert die mehrheitliche Politik nicht oder nur
unzureichend – und entmachtet damit demokratische Strukturen immer weiter.
Ordnungspolitisch wurden und werden rassistische Hetze und rechter Terror bis
heute vertuscht, verharmlost und verdrängt – trotz deutlicher Ereignisse und
Erkenntnisse. Da die AfD und die rechte Szene sich nicht grundlegend
kapitalismuskritisch betätigen, werden von den zuständigen Stellen viele Augen
zugedrückt. – Auch diese Entwicklung geht also auf das Konto der neoliberalen
politischen Kreise, die sich dazu eher nur wortgewaltig verhalten, die
notwendigen Präventionen und Sanktionen aber vernachlässigen.
Doch bei weitem nicht alle AfD-ProtestwählerInnen sind per
se rechtsextrem, und sie verbitten sich Nazi-Vergleiche, auch wenn sie sich bei
Wahlen aus Protest für ein diffuses rechtes, demokratiefeindliches Milieu
entschieden haben (nicht wenige haben ja vor wenigen Jahren noch hoffnungsvoll
links gewählt). Wenn einige linke Kreise sie nun pauschal als „Nazis“ titulieren,
verstärkt dies bei einigen die Protesthaltung – und sie werden für linke
Botschaften unerreichbar. Die AfD mag zwar eine geeignete Projektionsfläche
sein, aber sie ist nicht das primäre Problem, denn sie profitiert de facto von
den vorher entstandenen sozialen und kulturellen Verwerfungen der letzten
Jahrzehnte – und dieser Zusammenhang wird meistens nicht ausreichend
dargestellt.
Soziale Gerechtigkeit herstellen heißt, Demokratie zu stärken
Ein wichtiger Lösungsansatz für das Problem des wachsenden
Rechts-Trends kann (und muss) also ein gründlicher Politikwechsel für soziale
Gerechtigkeit sein. Aufgrund der tiefgehenden Verwerfungen bedarf es dazu auch
grundlegender Umsteuerungen. Die massive materielle Ungleichheit muss durch
Vermögenssteuern und ein gerechtes Steuersystem überwunden werden, damit
endlich ausreichende Mittel für soziale Investitionen zur Verfügung stehen.
Transferleistungen dürfen nicht länger mit Sanktionen verbunden und demütigend
sein. Vielmehr bedarf es existenzsichernder Mindestlöhne, Mindestrenten und
Mindestsicherungen. Darüber hinaus muss in eine soziale Klima- und
Verkehrspolitik, aber auch in eine soziale Gesundheits,- Pflege- und Bildungspolitik,
die allen zugute kommt, investiert werden.
Das Geld für ein soziales Umsteuern ist da, sei es im
steuerlichen Rahmen, beim milliardenschweren Kapitalabfluss in Steueroasen oder
bei einer deutlichen Reduzierung der Militärausgaben. Aber genau dies rührt am
derzeit noch starken neoliberalen Dogma, von dem die „Parteien der Mitte“ nicht
oder nur halbherzig ablassen wollen. – Doch wenn es schon „alternativlos“ war,
den Sozialstaat zugrunde zu richten und damit die Reichsten zu subventionieren –
dann ist es jetzt erst recht alternativlos, genau dies schnellstmöglich
rückgängig zu machen!
Denn: Nur wer soziale Sicherheit spürt, wird sich als Teil
der Gesellschaft fühlen und sich auch so verhalten. Soziale Gerechtigkeit ist
der Garant für eine „Demokratie für alle“. Angesichts der ökologischen,
sozialen und wirtschaftlichen Herausforderung ist genau dies eine Voraussetzung
für bürgerschaftliches Engagement, für humanistisches Handeln – und gegen
Rechts!
Nur eine gestärkte
Demokratie kann die Herausforderungen der Zeit lösen
Und: Nur wer bereit ist, an den gesellschaftlichen Diskursen
produktiv teilzunehmen, wird sich verantwortlich und zuständig fühlen. Und
genau dies ist zum Beispiel die Voraussetzung für die Akzeptanz einer klima-
und umweltfreundlichen Neuorientierung. – Ohne soziale Gerechtigkeit kriegen
wir eine funktionierende Demokratie, vorurteilsfreie Debatten und auch ein
engagiertes Klimabewusstsein nicht hin. Es geht also um mehr, als nur mehr Geld
in der Tasche zu haben!
Es gibt durchaus eine Priorität für die Wiederherstellung
oder Neueinführung der sozialen Gerechtigkeit, die für gesellschaftlichen
Zusammenhalt und bürgerschaftliches (demokratisches!) Engagement sorgt. Dabei
liegt es wohl überwiegend an den linken politischen Kräften, dies als Angebot
an die vielen „weggelaufenen“ WählerInnen in den Mittelpunkt zu rücken. Hier
hat es – auch bei der Partei DIE LINKE – in den letzten Jahren Versäumnisse
gegeben, die dringend korrigiert werden sollten. Die traurige Konsequenz ist,
dass auch DIE LINKE dadurch als „etabliert“ angesehen und von Hunderttausenden
nicht mehr gewählt wird.
Es ist die „linke“ Verantwortung, den Menschen eine
deutliche soziale Perspektive und Solidarität zu präsentieren, um die
entstandene Wahlverweigerung zu überwinden. – Eine schlüssige, engagierte und
solidarische Sozialpolitik ist zugleich der beste Antifaschismus und ein
deutliches Signal für mehr Demokratie!