…so wird auch jetzt wieder versucht, den Israel-Palästina-Konflikt auf Linie zu bringen

Die Ursachen von Konflikten und Kriegen (und damit der Beginn brutaler Konfliktspiralen) werden nicht selten zu Instrumenten von Falschauslegungen und Propaganda, die dann mal mehr, mal weniger erfolgreich Staatsräson werden. So ist es auch im jahrzehntelangen Israel-Palästina-Konflikt, zumal dort die ausschlaggebenden Ursachen nicht immer genau festzulegen sind.
Liegt der Anlass für die bis heute andauernden Konflikte im britischen Mandatsgebiet Palästina, in dem schon seit 1920 Auseinandersetzungen beider Volksgruppen ungelöst blieben? Oder in der Vertreibung und Enteignung palästinensischer Menschen nach der Staatsgründung Israels 1948? – Ja und nein, denn schon hier gibt es keinen historischen Konsens über Ursachen und Verlauf der Krise.
Ein unumgängliches Faktum zur Beurteilung der Lage ist allerdings die UN-Resolution 242, die nach Abschluss des „Sechstage-Krieges“ Ende 1967 einen Rückzug Israels aus den eroberten Gebieten des Westjordanlandes, Ost-Jerusalems und des Gaza-Streifens verlangte. Die israelischen Regierungen kamen dieser Aufforderung der Weltgemeinschaft nie nach, abgesehen vom Rückzug aus Gaza 2005.
Vielmehr wurde durch eine aggressive Siedlungs- und Eroberungspolitik im Westjordanland und Ost-Jerusalem seit 1967 mehr als eine Viertelmillion der dortigen palästinensischen Bevölkerung ihrer Heimat beraubt. 1980 verhinderte eine weitere UN-Resolution die offizielle Annektierung Ost-Jerusalems durch Israel. Auch die internationalen Friedensbemühungen der 1990er und 2000er Jahre führten nicht zur Aufgabe der völkerrechtswidrigen Okkupations- und Siedlungspolitik. Eine palästinensische Selbstverwaltung in zerstückelten Teilen des Westjordanlandes konnte das Ziel eines palästinensischen Staates gegen den Druck Israels nie wirkungsvoll umsetzen.
Im westlichen Fokus des Konflikts stehen zumeist radikale palästinensisch-arabische Gruppen, die vor Terror- und militärischen Angriffen auf Israel (teils mit Unterstützung arabischer Staaten oder dem Iran) nicht zurückschrecken. Oft tritt dabei die Rolle der israelischen Regierungen, die die aggressive Siedlungspolitik in Gebieten, die völkerrechtlich gar kein Teil Israels sind, immer weiter vorantreiben und konfliktverschärfend handeln, in den Hintergrund.
Auch die einseitige Annektion Ost-Jerusalems durch die rechte Netanyahu-Regierung (2017), die beide Teile der Stadt zur israelischen Hauptstadt erklärte, wurde im Westen nur wortkarg oder gar nicht als Völkerrechtsbruch thematisiert. Die staatlichen Organe Israels und ihre vermeintliche Integrität werden bei Okkupation und einseitiger Schaffung von Fakten auf Kosten der palästinensischen Bevölkerung zumeist in Ruhe gelassen.
Der aufgeheizte Konflikt ist allerdings schon lange in Europa angekommen. Nicht selten sind es radikale palästinensisch-arabische sowie rechte, antisemitische Gruppen, die in eigenen Medien oder bei Demonstrationen, den Konflikt nicht nur kritisieren, sondern religiös und politisch anstacheln. Die berechtigte Aufmerksamkeit auf diese Exzesse scheint jedoch auch den Blick auf die Fakten zu verklären.
Interessant ist dabei besonders in der BRD die öffentliche Debatte der letzten Jahre, bei der die Kritik an der völkerrechtswidrigen Politik der israelischen Führung immer wieder in einem Atemzug mit „Israel-Feindlichkeit“ oder sogar mit Antisemitismus gerückt wird – und bei der Ursache und Wirkung nicht selten aus dem Blickfeld geraten.
Antisemitismus ist – gemeinhin definiert – die Bedrohung jüdischen Glaubens und jüdischer Kultur durch Herabsetzung, Ausgrenzung, Hass und Gewalt. Aufgrund der deutschen Geschichte ist hierzu eine klare Haltung vonnöten, die sich von Faschismus und Judenhass sowie der Auslöschung jüdischen Lebens (wie sie auch in radikal-arabischen Kreisen propagiert wird) eindeutig distanziert.
Ebenso muss das Existenzrecht Israels unbestritten sein. Hier sollte jedoch klargestellt werden, dass es sich dabei – nicht zuletzt wegen der Beschlusslage der UNO (s. oben) – um ein Israel in den Grenzen von 1967 handeln muss, bei uneingeschränkter Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes, wie es auch bei den früheren, allerdings weithin gescheiterten Friedensprozessen thematisiert wurde. Die westlichen Regierungen propagieren zwar weiterhin eine Zwei-Staaten-Lösung, drücken sich aber dabei um die bestehende Beschlusslage herum.
Und so wird offiziell die berechtigte fundamentale Kritik an der israelischen Expansionspolitik nicht selten mit genereller „Israel-Feindlichkeit“ gleichgesetzt oder in die Nähe eines radikalen Antisemitismus gerückt. Doch dadurch werden Fakten durch eine immer wiederholte Wertediskussion verschleiert, die den eigentlichen Kern des Konflikts nicht mehr klar erkennen lassen. Daher bleibt das verbalisierte Bekenntnis zum Frieden in Nahost bisweilen floskelhaft.
In der BRD haben sich auch Teile der parlamentarischen und außerparlamentarischen Linken in den vergangenen Jahren in diese uneindeutige Position begeben. Wenn überhaupt (noch) klare Kritik am völkerrechtswidrigen und konfliktverschärfenden Vorgehen der israelischen Regierung geübt wird, dann nur unter dem gleichzeitigen Verweis auf den Kampf gegen Antisemitismus.
Eine klar formulierte Solidarität mit dem von Entrechtung und Vertreibung betroffenen palästinensischen Volk droht so mehr und mehr zu verblassen. Palästinensische Demonstrationen finden nicht mehr in der notwendigen Breite statt oder werden den radikalen Kräften überlassen. – Anders sieht es da bei Linken in anderen europäischen Ländern aus: Dänische und portugiesische Linksparteien zum Beispiel stellen sich konsequent an die Seite der Palästinenser*innen und verlieren dabei deren beschnittene Lebensbedingungen und den Anspruch auf ein politisches und territoriales Selbstbestimmungsrecht nicht aus dem Blick.
Hierzulande tritt auch bei der aktuellen Konfliktverschärfung ein Schlüsselereignis sehr schnell in den Hintergrund: Die israelische Regierung will im okkupierten Ost-Jerusalem mehrere Dutzend Palästinenser*innen aus ihren Wohnungen vertreiben. Grundlage dafür bietet ein Gesetz, dass Israelis, die ihre Häuser teils vor über 70 Jahren verlassen hatten, einen Besitzanspruch zuerkannt bekommen haben. Damit werden Eigentumsrechte vorgespiegelt, wo es eigentlich um feindliche Vertreibung geht. Den nach 1948 zu Hunderttausenden aus Israel vertriebenen Palästinenser*innen steht ein solches Recht auf ihr Eigentum „natürlich“ nicht zu…
Es wirkt wie eine kleine, traurige Episode von vielen, die die sich anschließende Gewaltspirale nicht zu rechtfertigen scheint. Und doch geht es eigentlich bei der Erklärung der abermaligen Konfliktverschärfung nicht ursächlich um palästinensische oder israelische Raketen, sondern um den x-ten Schritt zur Vertreibung von Palästinenser*innen aus den widerrechtlich besetzen Gebieten.
Es geht also um wahre Ursachen und verheerende Wirkungen eines brutalen, jahrzehntelangen Konflikts, in dem das Handeln der israelischen Regierungen eine, wenn auch nicht die alleinige zentrale Ursache darstellt. Hier geht es also nicht ursächlich um „Judenhass“ oder „Israel-Feindlichkeit“ und auch nicht um Antisemitismus, auch wenn mediale und politische Kreise (auch „von links“) immer wieder diese Nebelkerzen zünden und nachvollziehbare Ursachen dahinter verschwinden lassen wollen.