Vor den vielen globalen Krisen wird die soziale Krise im eigenen Land immer mehr vernachlässigt

Die Welt scheint aus den Fugen – und nahezu alles Krisenhafte trägt den weltweiten Stempel: Die Klimakrise zum Beispiel (auch wenn sie überwiegend vom globalen Norden und seinen reichsten Eliten zu verantworten ist) – oder die Corona-Pandemie, die die ganze Welt erfasst hat, gesundheitlich und wirtschaftlich, je nach Region und verschiedener Krisenpolitik unterschiedlich – oder die weltweite Jagd nach Rohstoffen (im Kern ebenfalls zu verantworten durch die Konzernmacht des globalen Nordens), der nicht selten in Kriegen und Bürgerkriegen gipfelt, die dann auch wieder „von uns“ mit reichlich Waffen befeuert werden.
Doch eine Krise ist „hausgemacht“ (auch wenn sie dem anglo-amerikanischen Neoliberalismus entstammt) – und muss daher in der Bundesrepublik selbst angegangen und beseitigt werden: Es ist die jahrzehntelange und immer weiter zunehmende materielle Armut, die im Durchschnitt jede*n Sechste*n trifft (in einigen Regionen und Stadtteilen sogar 25 Prozent!). Diese Situation ist durch Regierungshandeln herbeigeführt worden. Niedriglohnsektor, Hartz-IV-Zwangsregime, „Minijobs“ und Rentenkürzungen sind hier die zentralen Stichwörter, die Familien, Alleinerziehenden und Senior*innen millionenfach die notwendige Lebensgrundlage und auch die Perspektive raubt.
„Am anderen Ende“, also bei den etwa 10 Prozent Reichsten, wird seither „Party gefeiert“, dort steigen die Profite und Vermögen und dort sinken die Steuern – und rund 100 Milliarden Euro werden jährlich außer Landes geschleust, um die niedrigen Steuern auch noch umgehen zu können. – Das Ganze ist eine gezielte und gewollte (oder zumindest hingenommene) Umverteilung „von unten nach oben“, von den Ärmsten, die immer ärmer werden, zu den wenigen Mega-Reichen, die immer reicher werden. Wo Löhne zu niedrig sind, stockt der Staat aus ohnehin knappen Steuermitteln mit mehr als 10 Milliarden Euro pro Jahr auf – und subventioniert so Unternehmen und Konzerne, von denen einige mit prächtigen Bilanzen für ihre Aktionär*innen prahlen dürfen…
Die Folgen für die rund 15 Millionen Ärmsten liegen auf der Hand: Für ein ordentliches und auskömmliches Leben reicht es bei steigenden Preisen und Mieten für sie nicht mehr. Kinder bleiben auf der Strecke und haben nur wenige Perspektiven, der materiellen Armut selbst später entfliehen zu können. Ältere Menschen werden um den Lohn jahrzehntelanger, oft schwerer Arbeit gebracht. Ganze Stadt(rand)-Viertel werden zu Orten mangelnder Perspektive und oft auch der Frustration und ihren Folgen.
Doch „wir“ dürfen uns nicht länger auf die Symptombeschreibung und auf ernste Mienen beschränken, denn die materielle Armut bedroht nicht nur einzelne Menschen oder einige gesellschaftliche Gruppen. Sie bedroht vielmehr die gesamte Gesellschaft, in der Solidarität und Zusammenhalt mehr und mehr verloren gehen. – Millionenfache materielle Armut hat keine Lobby: Die Montagsdemos gegen die Agenda 2010 sind abgeebbt, Hartz-IV-(Selbst-)Hilfeinitiativen gibt es nicht mehr. Die Sozialverbände stoßen weitgehend auf taube Ohren, denn „die Politik“, auch im halb-linken oder linken Bereich, thematisieren die Überwindung der materiellen Armut nicht mehr ausreichend als zentrales Problem der bundesdeutschen Gesellschaft.
In der derzeitigen Corona-Wirtschaftskrise leiden die Ärmsten doppelt so stark unter den Folgen wie die Besserverdienenden – und auch hier bietet die Mehrheit der Politik keine Lösungen an, weder bei „Minijobs“, von denen fast eine Million weggefallen sind und die wegen fehlender Sozialversicherungspflicht nur in die Hartz-IV-Spirale führen, noch beim nicht hinreichenden Hartz-IV-Satz, noch beim Mietenstopp, noch bei der Absicherung von Kindern und Jugendlichen.
Viele Betroffene haben sich von den „etablierten“ Parteien zurückgezogen und nehmen am parlamentarischen Willensbildungsprozess nicht mehr teil. Eine nicht geringe Zahl ist von der Linkspartei und der SPD ins Nicht-Wähler*innenlager oder sogar zur AfD abgedriftet. Manche sind nun auf Anti-Coronademos zu finden, denn den Regierenden vertrauen viele nicht mehr. Mit diesen „Ausweichbewegungen“ wird materielle Armut zum hochproblematischen Demokratie-Dilemma. Die mit der politischen Mehrheit „abgehängten“ und sich perspektivlos fühlenden Menschen stehen nun mit erklärten Demokratiefeinden in der „falschen Ecke“ – und kriegen das auch täglich so zu hören! Die Konsequenzen daraus sind noch nicht absehbar, aber sie geben Anlass zu einem pessimistischen Verlauf.
Die soziale Krise ist seit mindestens zwei Jahrzehnten zugespitzt aktuell. Daher darf Regierungspolitik nicht nur Klima-, Integrations- und Corona-Gipfel oder ähnliche „Runde Tische“ veranstalten, sondern ganz dringend einen permanenten „Sozial-Kongress“, an dem Betroffene und Sozialverbände beteiligt sind und der „von außen“ bereits vorhandene Lösungswege (die bisher von der Mehrheitspolitik und den Wirtschaftseliten verhindert werden!) in die Regierungspolitik einbringt. Die Neubelebung der früheren Montagsdemos dürfte hier eine deutliche Unterstützung für eine notwendige Rückverteilung von privaten Vermögen in die Sozialpolitik und notwendige Investitionen sein.
In meiner Stadt Flensburg wirbt die offizielle Politik parteiübergreifend mit dem „bunten“ Charakter der Stadt. Ausgangspunkt dafür war 2015 die stark steigende Fluchtproblematik – und es hat Erfolge zuerst bei der Integration, aber später auch in Gleichstellungsfragen gegeben. Doch in sozialer Hinsicht ist die Stadt weitaus weniger „bunt“, denn die materielle Armut ist mit knapp 20 Prozent erschreckend hoch und prägt die Lage der Stadt seit vielen Jahren. In der Kommunalpolitik werden Vorschläge zu sozialer Wohnungspolitik oder zu sozialen Rabatten von der Ratsmehrheit allerdings bestenfalls mit spitzen Fingern angefasst. Der Verweis auf mangelnde Zuständigkeit und leere Kassen geht da schon leichter von den Lippen…
Aber auch in Flensburg ist die Priorisierung sozialer Ziele und eventuell auch die Implementierung eines „Runden Sozial-Tisches“ wichtig. Wie andere Kommunen leidet die Stadt unter dem hohen Druck von Sozialleistungen, die ihr von einer verfehlten Bundespolitik auferlegt werden. – Dagegen muss die Stadt lernen, sich zu wehren! Die Kommunalpolitik sollte Einigkeit darüber erzielen, dass eine Forderung nach dem Motto „Wer bestellt, zahlt!“ an den Bund zu richten ist – und dass daraus frei werdende Mittel nicht nur verstärkt für soziale Projekte, sondern für ein notwendiges soziales Umsteuern der gesamten Politik, z.B. beim Wohnungsbau, dem Nahverkehr, einem kostenlosen Schulessen etc. eingesetzt werden müssen.
Sozialverbände, Initiativen und sich zuständig fühlende politische Parteien sollten einen neuen „Sozial-Fokus“ dann auch in die Bevölkerung tragen und dort für aktive Unterstützung werben und gleichzeitig gut verständlich signalisieren, dass es eine koordinierte Bewegung gibt, die sich für die Rechte und ein besseres Leben der rund 15 Millionen (oder in Flensburg: der rund 20.000) Menschen einsetzt. Diese Signale waren in der jüngsten Vergangenheit zu schwach oder wurden fast gar nicht mehr gesendet – mit schwierigen Folgen für die gesamte Gesellschaft.
Die soziale Krise ist in der BRD auf nationaler, wie auch auf kommunaler Ebene „hausgemacht“. Deshalb sollte auf diesen Ebenen endlich eine Neuorientierung mit dem Ziel der Überwindung von Armut eingeleitet werden – zum Wohle der vielen betroffenen Menschen und für die Stärkung demokratischer Strukturen, in der sich alle Einwohner*innen wiederfinden können. Um eine radikale Rückverteilung der vielen privatisierten Milliarden kommt dabei allerdings niemand herum. Leere Versprechen und durchschaubare Tricksereien gab es in der Vergangenheit genug!