Haben wir nicht „etwas vergessen“?

Ein Kommentar zu 100 Jahren Volksabstimmung über die dänisch-deutsche Grenze: Das bürgerlich geprägte Geschichtsbild blendet die Realität der breiten Bevölkerung aus!

So wie auf dem Foto sieht ein Teil der dänisch-deutschen Grenze heute aus. Grenzkontrollen (welcher Art auch immer) sind wieder alltäglich geworden, auch wenn nicht alle immer ihre Pässe vorzeigen müssen. – Und „wir“ haben einen „Wildschweinzaun“ verpasst bekommen, der so gar nicht in das Idealbild eines „grenzenlosen Europa“ passt – und genau deshalb vielfältige Proteste in Teilen der Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze hervorgerufen hat.

Es ist also nicht „alles gut“ in der dänisch-deutschen Grenzregion zwischen Kongeå und Eider, auch wenn derzeit bei vielen Anlässen und Feierlichkeiten zum 100-jährigen Jubiläum das Verbindende zwischen beiden Nationen und nicht zuletzt der kulturell vielfältigen Bevölkerung herausgestellt wird. Und das ist auch gut so, denn die Menschen in Sønderborg (Sonderburg) und in Schleswig (Slesvig) verbindet im Alltag mehr als sie trennt.

Die nationale Frage „Was ist dänisch und was ist deutsch?“ (und wer bekommt nach dem 1. Weltkrieg welche Gebiete?) steht seit 200 Jahren über der Region. Sie war Anlass für zahlreiche Kriege und Konflikte, besonders im 19 Jahrhundert, die noch lange danach in das Leben der Menschen hineinwirkten und sie oft vor nationale Entscheidungsfragen stellte, die für ihren Alltag aber nur eine untergeordnete Rolle spielten. Und dennoch wurden viele in die nationalistischen Exzesse ihrer Regierungen in Berlin oder Kopenhagen hineingezogen – oder sie fühlten sich letztendlich doch gezwungen, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden.

Für viele Land-, Industrie- und Hafenarbeiter war die kulturelle Vielfalt im Grenzland jedoch viel pragmatischer als das ständige nationale Bekenntnis für die eine oder andere Seite. „Man“ verständigte sich auf Platt, Synnejysk oder den beiden Hochsprachen Dänisch und Deutsch, „man“ aß fast den gleichen Grünkohl, das gleiche angedickte Gemüse usw. usf. – Und: „Man“ lebte ein karges Leben und schuftete oft genug für den Profit anderer!

Die Volksabstimmung von 1920 war wegen der übergeordneten politischen Situation notwendig geworden, nicht zuletzt wegen der Aggressivität des deutschen Imperialismus Bismarck’scher Prägung, der den ganzen Kontinent in Brand gesetzt und zuvor bereits dem seit 1864 einverleibten Nordschleswig (Sønderjylland) seinen deutschen Willen aufzuzwingen versucht hatte. Die Menschen in der Grenzregion waren „unter die Räder gekommen“, viele fühlten sich verletzt oder persönlich erniedrigt. Hunger und Trauer um gefallene oder verletzte Angehörige gab es in allen Bevölkerungsgruppen.

Als 1920 die neue Grenze gezogen wurde, gab es einen politisch inszenierten und national überhöhten Wettlauf um die Seelen und Wahlstimmen. Auch das tat vielen sicherlich „in der Seele weh“, aber sie entschieden sich, auch wenn es oft „zwei (oder mehr) Seelen in der Brust“ gab. – Es war gezwungenermaßen eine nationale Entscheidung, nach der sich nicht wenige Menschen „auf der falschen Seite“ wiederfanden. Kurz danach manifestierte sich diese oft gar nicht so eindeutige Entscheidung glücklicherweise in der Entstehung zuerst dänischer und danach auch deutscher Minderheitenorganisationen im jeweils anderen Land.

Bjarke Friborg schrieb in diesen Tagen in einem Artikel über das 100-jährige Jubiläum für das linke Online-Portal solidaritet.dk: „Was die Feierlichkeiten typischerweise nicht berücksichtigen, ist die gewaltige soziale Polarisierung und das Erstarken der Arbeiterklasse, die ganz andere und größere Pläne hatte als diejenigen, die auf das Nationale begrenzt waren. Die dänisch-nationale Bewegung in der Region wurde von Bürgerlichen angeführt – ebenso wie ihre deutsch-nationalen Kontrahenten.“

Was derzeit also gefeiert wird, ist ein Produkt der bürgerlich-nationalen Entscheidungen, das zwar aus heutiger Sicht „gut gegangen“ ist, aber einen großen Teil der Bevölkerung und ihrer Lebensumstände in der gesamten Grenzregion ausblendet.

Friborg verweist zu Recht auf die Bildung von Arbeiterräten auch in dänischen Städten des damals noch deutschen Nordschleswigs der Jahre 1918/19. Die dortigen Genossinnen und Genossen hatten die gleichen Ziele wie diejenigen in deutschen oder anderen europäischen Städten: Die Überwindung des Kapitalismus, der mit Nationalismus und Imperialismus das Leben der Bevölkerung in den Abgrund gezogen hatte – und die Errichtung einer neuen sozial gerechten Gesellschaft, in der nicht mehr der Profit der Industriekonzerne oder der Landbesitzer im Zentrum zu stehen hatte, sondern die Bedürfnisse der zahlreichen Land- und Industriearbeiterklasse.

„Wir feiern“ also im Jahr 2020 zu sehr die Inhalte einer bürgerlich geprägten Geschichtsschreibung und „vergessen“ dabei die Lebensumstände weiter Teile der Bevölkerung – oder „wir“ sollen es vielleicht auch vergessen. – Den eigentlichen Beitrag der offiziellen Politik für die Anerkennung kultureller Vielfalt in der Grenzregion leistete wohl eher die Kopenhagen-Bonn-Erklärung von 1955, die im Nachgang der erniedrigenden Besetzung Dänemarks durch den Hitlerfaschismus ein wichtiges Signal auch für die Situation für die Bevölkerung zwischen Kongeå und Eider darstellte.

Das nun freie Bekenntnis der Menschen zu den Kulturen der Grenzregion löste Teile der überwiegend national geprägten bürgerlichen Politik auf. Jeder und jede kann seitdem so viel dänisch, deutsch oder friesisch sein, wie sie oder er es möchte. Niemand muss dies rechtfertigen oder verteidigen – und es gibt durch geförderte Institutionen die Garantie für das jeweilige kulturelle und sprachliche Bekenntnis. – Wir sollten uns also eher auf das 75-jährige Jubiläum dieser Erklärungen im Jahr 2030 vorbereiten, denn da geht es nicht um das „Entweder-Oder“ sondern um das viel weitergehende „Sowohl-als-Auch“, das auch zu Anfang des 20. Jahrhunderts viele Menschen beiderseits der neu gezogenen Grenze fühlten.

Wie sehr der Aspekt der Arbeiterklasse in den meisten Aktionen dieses Jubiläumsjahres verdrängt wird, zeigt eine Stellungnahme der damals jungen KPD: „Das Proletariat hat kein Interesse am Abstimmungsergebnis und hält sich deshalb auf Abstand“. – Nun, ganz so eindeutig wird es bei den Abstimmungen nicht gewesen sein, aber dieser Kommentar zeigt die weit verbreitete Sehnsucht nach der Überwindung des unheilbringenden Nationalismus von Politik, Eliten und Bürgertum. – Eine Botschaft, die auch heute noch aktuell und diskussionswürdig ist.

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Hier Bjarke Friborgs Artikel „Historien om Genforeningen mangler et klasseperspektiv“ (in dänischer Sprache) auf solidaritet.dk lesen

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